Einleitung
Wenn von Völkermord, aus dem Griechisch-Lateinischen Genozid, die Rede ist, stellt sich zunächst die Frage, wie das definiert ist und wie Völkermorde verglichen werden können gegenüber der immer wieder betonten Singularität des Holocaust / der Shoah (hebräisch). Zunächst muss klar sein: Vergleichen bedeutet nicht automatisch gleichsetzen, sondern kann auch Unterschiede verdeutlichen. Solche Unterschiede sind auch nicht automatisch hierarchisierbar im Sinne einer Skala des Schlimmen. Gewiss gibt es quantitative Unterschiede nach den Opferzahlen, doch daraus entspringt keine qualitative Wertung. Zu einzelnen Analysen gehören dann die Umstände dazu: Wie ist das entstanden, wie wurde es durchgeführt, wer war daran beteiligt? usw.
So stellt sich zuallererst die Frage nach der Definition. Der Begriff wurde nach dem Zweiten Weltkrieg juristisch geprägt im Hinblick auf den vorangegangenen Völkermord am jüdischen Volk. “Völkermord” heißt also nicht im Wortsinne, dass ein ganzes Volk ausgelöscht wurde, Gottseidank haben viele Jüdinnen und Juden auch in Europa überlebt.
Aber diese vollständige Auslöschung war beabsichtigt und wäre von den Nazis sicher auch mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchgeführt worden. Für den Kriegsschauplatz im östlichen Mittelmeerraum standen für den Fall des militärischen Durchbruchs in Ägypten 1942/43 Gaswagen in Athen für den Einsatz in Palästina bereit, und die Waffen-SS begleitete auch Feldmarschall Rommel bei seinem Afrikafeldzug und unternahm bereits Maßnahmen zur Inhaftierung und Ermordung nordafrikanischer Juden.
Definition
Der 1948 geschaffene Straftatbestand in der UN-Konvention gegen Völkermord bezieht sich also auf eine entsprechend verübte Tat in der Absicht, “auf direkte oder indirekte Weise €žeine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.” Die Tat muss also nicht zu Ende geführt worden sein, entscheidend ist hier die Absicht. Der Begriff bezeichnet daher eine Kategorie von Massenmord, die über noch über dem Massenmord als solchem steht und die damit verbundene Absicht in ihrer Bezeichnung trägt: Völkermord. Die sprachliche Ausdehnung im Deutschen zu Völker- meint keinen wirklichen Plural; dieses sprachlichen Problems wird durch den in der Wissenschaft gebräuchlichen Begriff Genozid vermieden, der auch dem international terminologisch aus dem Griechisch-Lateinischen stammenden englischen und französischen Wort entspricht (genocide).
Die Definition des Genozids nach der UN-Konvention ist weiter gefast als die physische Vernichtung von Menschen:
Nach Art. II der Konvention ist dies
eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.
Vor allem e) macht deutlich, dass auch die Absicht,, eine Gruppe kulturell und in ihrem sozialen Gefüge zu zerstören, also als solche (Volk, Religionsgemeinschaft usw.) “verschwinden” zu lassen, dem Tatbestand entspricht. Dies erzeugt zwangsläufig einen großen Diskussionsbedarf angesichts vieler historischer Fälle, für die das zutreffen könnte, v.a. wenn man bedenkt, dass die Absicht ausreicht, nicht die vollendete Tat.
Entstehung des völkerrechtlichen Straftatbestandes
Der Begriff Völkermord / Genozid und der völkerrectlich in der UN-Konvention ausgearbeitete Straftatbestand ist untrennbar mit dem Namen Raphael Lemkin (1900-1959) verbunden. Lemkin erlebte als polnischer Jude im zaristischen Russland schon in der Kindheit antijüdische Pogrome in seiner Region (damals russisches Gouvernement Wilna, heute Weißrussland) und beschäftigte sich schon während seines Studiums an der Universität Lemberg (poln./russ.. Lwow, ukrainisch Lviv), seit 1920 polnisch, mit dem Thema Völkermord angesichts der Massaker im Osmanischen Reich an den christlichen Minderheiten, vor allem den Armeniern, während des Ersten Weltkrieges. Als Jurist unterbreitete Lemkin dem Völkerbund 1933 erstmals Vorschläge für eine internationale Konvention gegen Genozid, hier wie auch in den folgenden Jahren ergebnislos. Im Krieg konnte Lemkin 1940 nach Schweden flüchten und konnte 1941 an die Duke University in North Carolina gehen. Als Berater der US-Behörden entwarf er dann für die UNO den Straftatbestand für die Konvention von 1948, den Begriff Genocide hatte er zuvor schon in seinem Buch Axis Rule in Occupied Europe 1944 (S. 79ff.) dargelegt. Darin legt er auch eingangsklar:
Generally speaking, genocide does not necessarily mean the immediate destruction of a nation, except when accomplished by mass killings of all members of a nation, It is intenden rather to signify a coordinated plan of different actions aiming at the destruction of essential foundations of the life of national groups, with the aim of annihilating the groups themselves. (S. 79).
Lemkin bezog seine Darstellung auf die damals bekannten Vorgänge des Völkermordes an den Juden unter der deutschen Besatzung in Europa. Am 3.12.1944 erklärte er den Begriff Genocide in der Washinton Post anhand der damals geschätzten 1.765.000 in Auschwitz umgebrachten Juden. Später konnte Lemkin im Nürnberger Prozess dem US-Hauptvertreter der Anklage, Roberzt H. Jakcvons, assistieren.
Abgrenzung der Phänomene von massenhaftem Mord
In die jüngere Geschichte eingegangen um 1900 zunächst das russische Wort Pogrom (Verwüstung, Zerstörung), eine kollektiv begangene Gewalttat gegen Menschen, die ebenfalls kollektiv als “anders” abgelehnt werden, in ethnischer, religiöser oder kultureller Hinsicht. Die historischen Pogrome in Russland richteten sich gegen die jüdische Minderheit im westlichen, ehemals polnischen Teil des Zanrereiches. Es waren Überfälle auf Dörfer oder Kleinstädte, das Shtetl des Ostjudentums, der jüdische Viertel innerhalb von größeren Städten wie z.B. in Kiew oder Odessa. Pogrome im eigentlichen Sinne entstanden spontan durch einen Auslöser, der eine seit längerem bestehende Feindschaft, genährt von Vorurteilen. zur Explosion brachte. So war es am 27.6.1881, dem ersten “klassischen” Pogrom in Russland gegen die jüdische Bevölkerung.
Pogrome entstehen spontan, aber nicht zufällig. Im Hintergrund gibt es eine konzertierte, d.h.. sich aus einzelnen Elementen zusammensetzende, manchmal auch regelrecht organisierte Propaganda, es gibt oft Antifgungen und Anstifter für die Tat. Damals ging eine antijüdische Propaganda von der Orthodoxen Kirche aus, es gab sozial verankerte Vorurteile in der russischen Gesellschaft und in diesem Fall kam die Ermordung von Zar Alexander II. am 1.3.1881 hinzu, über die Gerüchte entstanden, die “den Juden” die Schuld daran gaben. Dies ist ein klassischer Fall des Sündenbock-Syndroms.
Trotz dieses Hintergrund und Zusammenhangs definiert der Begriff Pogrom auf eine relativ spontane und relativ lokal begrenzte, aber kollektiv begangene Tat. Die Dimension der Tat ist dabei auch variabel, es von Zerstörung von Häusern und Eigentum in Verbindung mit einzelnen Morden bis zur systematischen Vertreibung und massenhaften Ermordung. Der Übergang zum Massaker ist daher fließend.
Massaker und Massenmord sind dagegen keine historisch und präzise definierten Begriffe. Massaker treten oft im Zusaammenhang mit Kriegshandlungen auf, gehen aber darüber hinaus und betreffen meistens Zivilisten dabei. Auch hier wird das Ziel der Tat als kollektiver Gegner verstanden, es bleibt aber bei einem lokal eingegrenzten Tatzusammenhang. Massenmord enthält eine stärkere Absicht, Planung, Zielgerichtetheit. Der Massenmord kann Dimensionen annehmen, die einen Übergang zum Genozid herstellen.
Kriegsverbrechen sind Verbrechen, die im Zusammenhang mit einem kriegerischen Geschehen verübt werden, entweder unmittelbar damit verbunden oder aber nur am Rande. Gemeinhin wird Kriegsverbrechen mit dem großen internationalen Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg 1946-47 gegen die nationalsozialistische und zum Teil auch militärische Führung des “Dritten Reiches”, offiziell hieß das Verfahren Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Der Begriff Kriegsverbrechen war aber nur ein Sammelbegriff für verschiedene Tatbestände und der Tatsache geschuldet, dass der Prozess von den Siegern des Zweiten Weltiriegs durchgeführt wurde. Zentral darin war das wichtige und von der Sache her eigentlich übergeordnete Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Kriegsverbrechen als Straftatbestand, als Vergehen gegen völkerrechtliche Bestimmungen zur Führung von Kriegen gab es schon vorher und sie waren auch Grundlage für die Urteilsfindung im Nünberger Prozess.
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