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Thema: Staatsrecht / Staatsphilosophie

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Zum Einstieg:

Die Papstrede im Bundestag am 22.9.2011. Im Wortlaut auf zahlreichen Sites, z.B. auf sueddeutsche.de
Beiträge in den Medien: Zeit Online ; Tagesschau: hier und hier ; Spiegel Online ; Faz.Net.

Zur Papstrede siehe den Kommentar hier weiter unten.

 

Links und Infos

Stichworte zu den wichtigsten Staatstheoretikern vom 16. bis 18. Jh. gibt es auf Historia Universalis.

Wird ergänzt...

 

 

Kleiner Kommentar zur Papstrede: Leben wir im falschen Rechtssystem?

Dass es so sei, meint der Papst und hat es in seiner Rede kurz und bündig dargelegt. Durch den Rechtspositivismus, als dessen herausragendsten Vertreter er zu Recht Hans Kelsen nennt, sei das Recht von ethischen Zielsetzungen abgekoppelt worden. Hans Kelsen war österreichischer Staatsrechtler, maßgeblicher Autor der österreichischen Verfassung von 1920 und bis 1929 Mitglied des österreichischen Verfassungsgerichts sowie vor allem als Rechtstheoretiker und Rechtsphilosoph der “Jurist des 20. Jahrhunderts”, wie ihn der renommierte Rechtswissenschaftler Horst Dreier bezeichnet (siehe auf der instruktiven Seite zu Kelsen auf Wikipedia). Eine gute auch für Nichtspezialisten verständliche Einführung in die Reine Rechtslehre von Kelsen plus biographischem Überblick gibt es online auf der Site der Universität Zürich:
Kley, A; Tophinke, E (2001). Überblick über die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen. Juristische Arbeitsblätter, 33(2):169-174, Postprint available at: http://www.zora.uzh.ch, direkt dorthin hier.

Unter Rechtspositivismus ist, vereinfacht gesagt, zu verstehen, dass sich die Menschen selbst ihre Normen geben, aus denen die Gesetze entstehen, im Sinne eines Sollens. Dies ist etwas ganz anderes als die Gesetze der Naturwissenschaft, die auf Kausalität und Wirkung des Seins beruhen. Damit wurde mit einer langen Rechtstradition gebrochen, die menschliches Recht von höheren, gott- oder naturgegebenen Normen ableitete, also von religiösen oder sie ersetzenden transzendenten Wertvorstelllungen. In den Niederungen des politischen Alltags in Österreich bedeutete dies z.B., dass Kelsen für die Vollendung der Zivilehe durch ein zivilrechtliches Scheidungsrecht eintrat und damit im katholischen Österreich eine Niederlage im rechtspolitischen Streit erlitt.

In dieser Trennung von Recht und Moral sieht Papst Benedikt das Grundübel der Moderne, die Loslösung menschlichen Handelns von einer auf Gott oder das christliche Naturrecht zurückgehenden Werte- und Normsetzung. Dies sei jedoch nicht nur ein verstärktes Übel seit 50 Jahren, wie Benedikt betont, und wohl dadurch die jüngere moderne Rechtsauffassung in Deutschland meint, sondern habe auch zuvor schon den Weg für totalitäre Systeme und namentlich den Nationalsozialismus geöffnet. Hier könnte man fast einen Anklang an die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno finden, wonach aus dem Geist der Aufklärung eben auch sein Gegenteil entstehen kann, doch sahen die beiden Philosophen der “Frankfurter Schule” die Lösung nicht in der Rückkehr zu vormodernen und damit vordemokratischen Prinzipien, sondern in der Notwendigkeit der fortgesetzten Aufklärung als Selbsterziehung des Menschen angesichts seiner Entscheidungsfreiheit. Die Position des Papstes ist nichts Neues: Nach 1945 gab es eine Flut von katholisch inspirierten Publikationen, die in derselben Richtung argumentierten. So sei in diesem Zusammenhang auf die Rede von Konrad Adenauer vom 6.3.1946 in Köln verwiesen, wo er außer dem preußischen Militarismus vor allem dem Materialismus die Schuld am Siegeszug des NS gab: “Die materialistische Weltanschauung hat zwangsläufig zu einer weiteren Überhöhung des Staats- und Machtbegriffs, zur Minderbewertung der ethischen Werte und der Würde des einzelnen Menschen geführt. Der Nationalsozialismus war eine bis ins Verbrecherische hinein vorgetriebene Konsequenz dieser sich aus der materialistischen Weltanschauung ergebenden Anbetung der Macht und Missachtung des Wertes des Einzelmenschen.” (Die Demokratie ist für uns eine Weltanschauung. Aus einer Grundsatzrede zum Programm der CDU, 6. März 1946, S.4, online auf der Site der Konrad-Adenauer-Stiftung). In einer weiteren Rede vom 24.3.1946 konkretisierte Adenauer den Marxismus als Ursprung des Materialismus (siehe Konrad Adenauer, Reden 1917 – 1967. Eine Auswahl, hrsg. v. H.-P. Schwarz, Stuttgart 1975, S.82ff.)

Tatsächlich bezogen sich Verteidiger und Gegner der Gleichheit der Menschen seit der Aufklärung auf ein transzendentes, d.h. die Entscheidung des Menschen übersteigendes Prinzip: die Befürworter, wonach der Mensch von Natur aus oder von Gott gleich geschaffen sei, sowie die Gegenseite, der Sozialdarwinismus, wonach die Natur eine Gleichheit nicht kenne. Man könnte somit problemlos auch eine gegenteilige Logik als die von Benedikt vertretene aufzeigen, wonach nämlich die Berufung auf höhere Prinzipien - seien sie zueinander auch völlig konträr - zur Entmündigung des Menschen führte und damit zu den Fehlentwicklungen. Hier kommt auch wieder ein bisschen von der alten Frage nach der Willensfreiheit zum Vorschein.

Konkret beinhaltete Kelsens Rechtsphilosophie keinerlei Akzeptanz gegenüber dem NS, nach dem Motto, jedes Recht ist Recht. Im Gegenteil: Kelsen exponierte sich als Kontrahent von Carl Schmitt, der, wie bekannt, eben jene den NS legitimierende im wahrsten Sinne un-moralische Rechtsauffassung vertrat. Noch vor 1933 forderte Schmitt, der Hüter der Verfassung könne nur ein mit diktatorischen Prinzipien ausgestatteter Reichspräsident sein, während Kelsen, seit 1930 Professor in Köln, die Demokratie verteidigte. Gewiss, wenige Juristen folgten dann seinem Beispiel nach der “Machtergreifung” Hitlers. Doch etliche katholische Verbände - vom Katholischen Lehrerverband in seiner Erklärung vom 1.4.1933 bis zum Gemeinsamen Hirtenbrief der Oberhirten der Diözesen Deutschlands vom 8.6.1933 - applaudierten der nationalsozialistischen Revolution aus freien Stücken (vgl. in: Hans Müller: Katholische Kirche und Nationalsozialismus. Dokumente 1930-1935, München 1963, S.86f. und 152-161).

W. Geiger