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Thema: Das Geld. Zur Geschichte des Finanzwesens

3. Zum  Finanzwesen im Mittelalter: Geld, Kirche, “Wucher”

Wolfgang Geiger

3.7.2019

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Finanzplätze im Mittelalter
Quellen

Übersicht:

Thematische Darstellung
1. Die Verschuldungsproblematik seit der Antike
2. Die kirchliche Diskussion und die gesellschaftliche Realität im Frühen Mittelalter
3. Theologisch-theoretische Debatte über den Wucher im Hochmittelalter
4. Die gesellschaftliche Realität

1. Die Verschuldungsproblematik seit der Antike

Geldleihe gegen Zinsen - in welcher Form das Tauschmittel auch bestand: Naturalien oder Geld im eigentichen Sinne - ist eine Praxis und ein Problem soweit der historische Rückblick erlaubt. Bekannt ist die Gesetzgebung Solons für Athen zu Beginn des 6.Jh. v. Chr. auch für die Abschaffung der Schuldknechtschaft, ein Übel, dass die ganze Antike durchzog und immer wieder bekämpft wurde. Das Problem bestand dabei nicht nur in überhöhten Zinsforderungen, sondern v.a. darin, dass die Schuldner meistens verarmte Bauern waren, die auf die nächste Ernte hin liehen und aus dem Verschuldungskreislauf nicht mehr herauskamen. Es gibt hier um sog. Verbrauchskredite. So gab es schon in frühen Hochkulturen die regelmäßige, staatlich angeordnete  Befreiung von Schulden oder das Verbot der Erblichkeit von Schulden auf die nächste Generation. In der Antke gab es eine quasi permanente Auseinandersetzung um eine gerechte Festlegung eines Höchstzinssatzes. In der Römischen Republik wurde im Zwölftafelgesetz 450 v. Chr. eine Zinshöhe von 8,33% festgelegt (Tafel 8, Düll, S. 92), doch wurde weiterhin darum gestritten, auch mit Forderungen nach einem Zinsverbot.

Die Abneigung gegen Finanzgeschäfte war jedoch nur die zugespitzte Form einer transkulturell verbreiteten Abneigung gegen den Handel oder bestimmte Formen des Handels, wo scheinbar Geld ohne Arbeit verdient wurde, wenn man darunter nur produktive Arbeit verstand (in der Landwirtschaft, im Handwerk usw.). So waren in der vormodernen konfuzianischen Gesellschaft Chinas oder Japans die Händler am schlechtesten angesehen, in der Hierarchie unter Bauern und Handwerkern stehend. (Seiwert, S. 43). Im antiken Rom stellte Cicero (gest. 43 v. Chr.), sich auf allgemeine gesellschaftliche Wertungen beziehend, ein Ranking von Berufen nach ihrem Ansehen auf, wonach er „Zöllner und Wucherer“ besonders verurteilte; die Zöllner, von denen auch in der Bibel die Rede ist, waren besonders verhasste Steuerpächter, die dem Staat Steuern vorschossen und sie dann mit Gewinn selbst eintrieben. „Für niedrig müssen auch die Krämer gelten“, heißt es dann weiter, „die von den Großhändlern Waren kaufen, um sie sogleich wieder zu verkaufen; denn sie können nichts gewinnen, wenn sie nicht die Käufer gehörig belügen […]“ (Cicero 2017: 1280 = 1. Buch, XLII. 150)

Die Auseinandersetzung um den “gerechten Preis” einer Ware und den Wucher im Mittelalter ist in diesem erweiterten Kontext zu sehen, schon durch die biblischen Wurzeln.

Im Christentum galt diesbezüglich das alttestamentarische Erbe, das im Neuen Testament erneuert wurde. So heißt es in 2 Mose 22, 24 sowie analog noch andernorts: “Wenn du Geld leihst einem aus meinem Volk, der arm ist bei dir, sollst du ihn nicht zu Schaden bringen und keinen Wucher an ihm treiben.” Hier geht es um einen sozialpolitischen gesellschaftlichen Kontext: Die Solidarität in der alten Stammesgesellschaft gebot, sich einander zu helfen und nicht von der Not des Nächsten zu profitieren. Dies ist in das Gebot der Nächstenliebe eingegangen. Im Neuen Testament ist dies schon auf eine höhere moraltheologische Ebene gehoben, wie in Lukas 6, 35: “[...] tut wohl und leihet, daß ihr nichts dafür hoffet, so wird euer Lohn groß sein [...].”

Chartres_Saint-Aignan803-smallDann galt aber v.a. das Beispiel Jesu, der die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieb, als Bezugspunkt. Dabei verschob sich in der Wahrnehmung das Motiv, den Missbrauch des Tempels für weltliche Geschäfte zu beenden, hin zum speziellen Thema des Geldwechsels und der diesbezüglichen Anklage gegen die Juden. Dazu gehört auch natürlich der Verrat Judas’ an Jesus “für 30 Silberlinge” (Mt 26. 14-16). . In der Geschichte  des “Judaslohns” - nomen est omen - ist schon der spätere christliche Antijudaismus begründet, trotz der Unlogik des Vorwurfs von Verrat und “Jesusmord”, da dies ja vorherbestimmt war und Jesus es zuvor auch ankündigte. Entsprechend erzählt das lange verschollene, im frühen Mittelalter aber offenbar bekannte, erst 2001 in Ägypten als koptischer Papyrus wiederentdeckte Judas-Evangelium, das zu Council_of_Constantinople_381_BnF_MS_Gr510_fol355den apokryphen, vm Konzil von Nicaea abgelehnten  Schriften gehört, dass Judas im Auftrag Jesu handelte.

Nachdem das Christentum zur Staatsreligion im Römischen Reich wurde (offiziell erst 391), musste es seine Moralvorstellungen, die mit der Redaktion des Neuen Testaments und der Glaubenslehre im Konzil von Nicaea 325 erst orthodox ausformuliert wurden, mit der Tradition des Römischen Rechts in Einklang bringen, das fortzuschreiben zum Selbstverständnis der Kirche gehörte und v.a. nach dem Untergang des Weströmischen Reiches im Mittelalter von großer Bedeutung war.

Die Beschlüsse des Konzils 325 sind nicht direkt überliefert und wurden auf dem Konzil von Konstantinopel 381 von Kaiser Theodosius bestätigt, dies betraf v.a. die katholische oder orthodoxe Lehre (beide Begriffe meinten ursprünglich dasselbe)  als die einzig gültige, während einige Details von Nicaea verändert wurden. Inwiefern beide Konzilien als ökumenisch betrachtet werden können, ist höchst fraglich, da beide Male nur östliche Bischöfe daran teilnahmen und auch noch 381 der Bischof von Rom gar nicht geladen war.

Als erste Gesetzessammlung römischen Rechts wurde 438 der Codex Theodosianus erstellt, der von den Senatoren, unter denen reiche Kaufleute, Zöllner und Kreditgeber waren, ein Zinsmaximum von 6% festsetzte. Im Codex Iustinianus aus dem Jahre 534, der dann als Corpus Iuris Civilis Grundlage für das Rechtsdenken im Mittelalter war,  wurde dies spezifiziert für Beamte, die Geld verliehen (ähnlich wie die Senatoren zuvor), auf 0,33% monatlich, für Kaufleute auf 0,66% und für risikoreiche Überseegeschäfte auf 1% pro Monat (4.32.26). Insgesamt wurden in allen Regelungen viele Fälle unterschieden: nach Laufzeit des Darlehens, Risiko, Notdarlehen, Verzugszinsen usw., die jeweilige Zielgruppe (Bauern usw.), und letztlich Anlage- oder Darlehenszinsen, so dass sich ein allgemeines Maximum eigentlich gar nicht definieren lässt. (Cf. Billeter, S. 305-355).

 

2. Die kirchliche Diskussion im Westen und die gesellschaftliche Realität im Frühen Mittelalter

Die Kirche beschloss jedoch eine Ausnahme für sich selbst, nämlich das Zinsverbot. So wurde auf dem Konzil von Nicaea in Kanon 17 festgehalten, dass, wer Wucherzinsen verlangt, von seinem Amt abgesetzt wird. Dies war die prioritäre Zielsetzung der Wucherdebatte und ist in dem Sinne zu verstehen, dass die Kirche, die ja als Institution erst im Entstehen war,  sich selbst hier eine vorbildliche Lebensführung verschrieb.

Die westliche, später in Abgrenzung zur orthodoxen (römisch-)katholisch genannte Kirche ging dann ihre eigenen Wege. Während die Wuchergesetzgebung des Codex Iustinianus im Osten weitgehend in Kraft blieb, erfolgte im Westen eine Verkündung dieses Grundsatzes des nizäanischen Konzils über die Kleriker hinaus für alle Gläubigen durch Papst Leo d. Gr. 443 und hierin wird oft als der Beginn eines realen Zinsverbots gesehen (so auch in Wikipedia: Wucher, oder bei Kolb, S. 4.). Tatsächlich gab es in der karolingischen Zeit Verurteilungen des Wuchers durch die Herrscher, d.h. Versuche der Umsetzung in weltliches Recht, durch Karl d. Gr. und v.a. Lothar I. (gest. 855), ab 795 Mitregent seines Vaters Karl und danach König des Mittelreiches nach der Reichsteilung. Mit lat. usura Wucher war hier tatsächlich das biblische “Maß für Maß” gemeint (nicht mehr zurückfordern, als man verliehen hat), doch richteten sich die Erlasse der Karolinger zwar grundsätzlich auch an die Laien, die konkreten Fälle betrafen aber kirchlicher Wucherer. So beauftragte Karl der Kahle den Bischof von Reims, Hinkmar, in missbilligendem Ton (Vorwurf der Untätigkeit), gegen die Wucherer in Laon vorzugehen, die Kleriker waren, Getreide verliehen und damit “üblen Wucher trieben. Für einen Scheffel Getreide verlangten sie bei der nächsten Ernte, drei, vier, fünf oder gar sechs zurück [...]”. (Schmitz, S. 544). Es ging somit um keine Geldgeschäfte, sondern um Naturalwucher in Zeiten der Hungersnot, das Übelste vom Übelsten durch Kirchenleute selbst, ein Paradebeispiel des in den biblischen Texten Verbotenen. 

Das Wucherverbot schon bei Karl d. Gr. dürfte in solch einem Kontext zu sehen sein, mit seiner Münzreform 794 setzte er auch Brotpreise fest, wohl um dem Preisauftrieb in Notzeiten entgegenzuwirken, was freilich auf die Konsumenten zielte, nicht auf die Produzenten (die Bauern), denen bei schlechter Ernte nur an einer Preiserhöhung für Getreide gelegen sein konnte. Ein weiterer Kontext war der Verfall klösterlichen und klerikalen Lebens überhaupt, der Karl berichtet wurde, und der in vielem an die Situation vor der Reformation erinnert, und ihn zu einem diesbezüglichen Erlass anregte (802): “Erneuert wird das Gebot für Kleriker, sich weltlicher Geschäfte zu enthalten”, damit verbunden das Wucherverbot, “Streit und Auseinandersetzungen zu meiden und sich nicht der Trunksucht und Gelagen hinzugeben”, sofort abzustellen seien “Unzucht [...], Hurerei und Sodomie.” (Hägermann, S. 459).

In der Wucherfrage war die Kirche also auch damals noch weitgehend mit sich selbst beschäftigt und das nicht zufällig, denn, abgesehen vom Lebenswandel der Kleriker war die Kirche noch lange Zeit die Institution, die durch den allgemeinen Kirchenzehnten am meisten Reichtümer anhäufte, mit der Betonung auf “anhäufte”, d.h. an einem bzw. verschiedenen Orten konzentrierte. Vieles davon floss in die Thesaurierung, z.B. die liturgischen Silber- und Goldobjekte in den Kirchen, die, anders als man vorschnell meinen könnte, nicht nur “Verschwendung” waren, sondern im Gegenteil auch als “Sparbüchse” dienen konnten, wenn sie in Notzeiten verkauft oder verpfändet wurden. Hier traten dann Pfandleiher in Aktion, darunter auch oder vielleicht sogar vornehmlich jüdische, wenn der betreffende Kirchenmann davon zurückscheute, zu christlichen Geldverleihern zu gehen. Die Pfandleihe christlicher Ritualgegenstände an jüdische Geldverleiher stand dann wiederum stark in der Kritik von Seiten der Obrigkeit.

Das Wucherverbot Karls d. Gr. hatte im Hinblick auf seine allgemeine Relevanz  eher ermahnenden Charakter: “Den Wucherverboten Karls fehlt die Strafandrohung im Fall der Zuwiderhandlung, und man hat daraus geschlossen, daß es ihm mit seiner Gesetzgebung so ernst nicht gewesen sein können er sich damit begnügt habe, das sittliche Unrecht ins allgemeine Bewußtsein zu rücken. ‘Durch die moralische Verdammung war der christlichen und kirchlichen Forderung Genüge getan’, so urteilt etwa Heinrich Fichtenau, eine praktische Bedeutung hätten die Wucherverbote kaum gehabt.” (Schmitz, S. 546).

Welche Wirkung solche Erlasse hatten, offenbart ihre Häufigkeit. So erließ Bischof Hinkmar von Reims nach seiner Ermahnung durch Karl den Kahlen mehrere Anordnungen gegen den Wucher in der Stadt Laon zwischen 853 und 875, ein Beleg dafür, wie in unzähligen späteren Fällen auch, dass es wohl eine Vorstellung von Wucherverbot geben konnte, aber faktisch keine Durchsetzung in der Realität.

Die Geldwirtschaft war im frühen Mittelalter nach dem inflationären Werteverlust der Münzen und dem Zusammenbruch der römischen Zwangsbewirtschaftung ohnehin zurückgegangen, römische Münzen wurden zu Silberbarren (“Hacksilber”) zusammengeschmolzen und gehortet, neue Münzen zwar geschaffen und mit der Münzreform Karls d. Gr., vereinheitlicht, doch war der Umlauf der Standardmünze Denar (Pfennig) zu 1,7 g Silber begrenzt. Wie aus der nebenstehenden Berechnung ersichtlich, entsprach ein Denar schon einem theoretischen Lebensmittelbedarf pro Person, auf den Verzehr von Brot heruntergebrochen, von ca. einer Woche  (Weizenbrot) . In weiten Bereichen v.a. des ländlichen Raumes war daher noch Naturaltausch vorherrschend oder doch zumindest parallel gebräuchlich. Grundherrliche Abgaben wurden ohnehin lange noch in Anteilen an der Ernte oder in quantitativen Angaben landwirtschaftlicher Erzeugnisse berechnet.

Dennoch gibt es eine durchaus falsche Vorstellung von der Naturalwirtschaft gegenüber der späteren Duchsetzung der Geldwirtschaft. Der Mangel an materiellem Geld behinderte nicht das Kreditwesen, sondern machte es in vielen Bereichen geradezu notwendig, weil man immer wieder seine Zahlungen “anschreiben”, d.h. stunden lassen musste. Aus solchen Zahlungsaufschüben entwickelte sich das Kreditwesen gegen Zins, selbst innerhalb naturalwirtschaftlicher Verhältnisse (vgl. dazu Kuske). in einer noch weitgehend analphabetischen Gesellschaft erforderten solche Geschäfte eine Vertrauensbasis und vollzogen sich mit Zeugen.  So git es nur wenige Zeugnisse aus dieser Zeit, allenfalls durch die Kirche selbst oder Adlige wie die Gräfin Dhuoda in der karolingischen Epoche, die schrieb, “oft größere Summen nicht nur von Christen, sondern auch von Juden geliehen” zu haben (man beachte die hierarchische Reihenfolge der Benennung!).

Die allgemeine Relevanz der Verurteilung des Wuchers bleibt daher für das Frühe Mittelalter zweifelhaft. Schon Papst Leo I., d. Gr., der als Autor eines allgemeinen Zinsverbots immer wieder erwähnt wird, wandte sich, ähnlich wie noch für die Karoingerzeit gesehen,  prioritär konkret an die Kirche und sekundär allgemein-moralisch, wenn auch in scharfer Wortwahl, an die Laien.  (Schaub, S. 27-29).

Während später im Hoch- und Spätmittelalter jüdische Händler und Geldwechsler ins Zentrum der Kritik rückten, so holten zunächst die Bischöfe selbst im frühen Mittelalter jüdische Händler aus dem Süden in die von ihnen weltlich regierten Städte, zunächst ins Rheingebiet, so dass die Erstansiedlung jüdischer Gemeinden geradezu eine gezielte Operation der Kirche war. Wie das Speyerer Privileg zeigt, versprach man sich davon die Entwicklung des Handels, vor allem mit dem Mittelmeerraum, und das Privileg schloss den Geldwechsel mit ein. Was nicht heißt, dass dieses Geschäft auf Juden beschränkt gewiesen wäre.

 

3. Theologisch-theoretische Debatte über den Wucher im Hochmittelalter

Die meisten heutigen Darstellungen zur Wucherfrage in der Kirche beziehen sich auf die zahlreichen Schriften von Klerikern seit dem Frühen Mittelalter, von den “Kirchenvätern”, wie z.B. Ambrosius vn Mailand (339-397), und herausragenden Theologen, wie z.B. Thomas von Aquin (ca. 1225-1274),  bis zu einfachen Mönchen. Dabei gerät man rasch in die kurzschlüssige Gleichsetzung der Theoriediskussion mit einem von der Kirche gesetzten Recht und von da aus wiederum mit der gesellschaftlichen Realität. Beide Gleichungen sind jedoch falsch: Weder waren theologische Lehrmeinungen automatisch Kirchenrecht , noch war Kirchenrecht weltliches Recht, und selbst wieweit weltliches Recht realiter befolgt wurde, ist noch eine Frage. Diesen Trugschlüssen verfällt man aber auch über weite Strecken, wenn man Le Goffs Wucherzins und Höllenqualen liest, und es besteht der Verdacht, dass auch der Autor selbst zeitweilig den Unterschied nicht mehr im Sinne  hatte. Deswegen erschien wohl die “Einführung” zum Buch im Nachwort von Johannes Fried in der deutschen Ausgabe sinnvoll, wo er einen gezielten Blick auf die Realität wirft.Avaricia Strasbourg

Eine weiter über die Wucherfrage hinausgehende Grundlage vor allem im Neuen Testament ist die ablehnende Haltung gegenüber Reichtum und Habgier, letztere (lat. avaritia) war eine der Todsünden  und wurde als Quelle des Reichtums verstanden, dagegen stand eine, modern gesprochen, Solidaritätsbekundung mit den Armen. Der den Charakter verderbende Reichtum ist bis heute ein Begriff und der Bibelspruch “Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon” (Mt 6, 24 un Lk 16,9.11), bringt auf den Punkt, wie Religion hier quasi “politisch” wird, indem Mammon, eigentlich nur das aramäische Wort für Reichtum, zum Gegenspieler Gottes, Satan gleich, wird. Dass der Mammon in der Neuzeit als Dämon personifiziert wurde, hat ursächlich auch mit der Bibelübersetzung Luthers zu tun, der das Wort als Fremdwort stehen ließ, wie es die Übersetzer ins Griechische und Lateinische vor ihm taten.Habgieriger Göttingen-klein

Der Höhepunkt der Anti-Wucher-Publizistik, wenn man das in Zeiten vor der Erfindung des Buchdrucks so nennen kann, lag im 12. und 13. Jh. und reagierte auf die durch die Ausdehnung des Handels und die damit verbundene Entwicklung des Finanzwesens verstärkt aufgeworfene Frage nach der Praxis des Geldverleihs. So entstand die  große Messe in der ostfranzösischen Region Champagne Mitte des 12. Jh.s, die europaweit, Nordmeer mit Mittelmeer verbindend, eine fast das ganze Jahr über an verschiedenen Orten der Region stattfindende, quasi permanente Handelsplattform darstellte. “Mit der Entwicklung einer Welt konfrontiert, die den Christen immer mehr weltliche Freuden bot”, legt Le Goff dar, gründeten sich Bettel- und Predigerorden  wie die Franziskaner und Dominikaner, “die dem zunehmenden Reichtum den geistlichen Wert der Armut gegenüberstellten.” (Wucherzins..., S. 17). Bis dahin war die Kirche aber auch selbst weiterhin im Geldgeschäft tätig, in seinem jüngsen Buch Geld im Mittelalter schreibt Jacques Le Goff: “Wir müssen konstatieren, dass die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert zweifellos den Höhepunkt und alsbald einsetzenden Niedergang der Rolle der Klosterorden für den Geldumlauf markierte. Einige Klöster, insbesondere die der Cluniazenser, zählten zu den größten Akteuren im Geldleihgeschäft und liehen Laien Geld, die in Schulden geraten waren. Aber dann nahm die Geldnachfrage derart zu, dass die Klöster aus dem Rennen geworfen wurden.” (Geld..., S. 32). Dies begründet den Niedergang der kirchlichen Akteure noch nicht einmal mit der Verschärfung der Kampagne gegen den Wucher, sondern im Gegenteil mit der Ausdehnung der ökonomischen Praxis, die anderen Akteuren zugute kam.

In Wucherzins und Höllenqualen bezieht sich Le Goff stark auf drei Autoren, einen Franzosen, einen Engländer und und einen Deutschen, wenn diese Nationalitätsidentifizierungen denn damals eine Bedeutung hatten: Jacques de Vitry (ca. 1160/70-1240), Thomas of Chobham und Caesarius von Heisterbach (ca. 1180- nach 1240). Beide zitierten Exempla, angeblich oder wirklich stattgefundenen Ereignissen und Geschichten, aus Predigten und mit der Absicht einer entsprechenden Weiterverbreitung, in denen es unter anderem um sündige und reuige oder auch nicht bereuende Wucherer ging, für letztere hieß dies: “Als nie verzagender Helfershelfer des Satans kann der Wucher nur zu ewiger Knechtschaft, zum Satan und zur Strafe ohne Ende in der Hölle führen!” (Caesarius nach Le Goff, Wucherzinsen..., S. 41). Und so wie Dante im Inferno die in der Hölle gepeinigten Wucherer schilderte, so erzählten auch die Exempla von Damönen, die den Wucherer heimsuchten, noch nach seinem Tod, und von Lebenden gesehen wurden.

Für geliehenes Geld eine Gebühr zu verlangen, also Zins, konnte vielfältige Formen annehmen, die hier im einzelnen gar nicht alle dargestellt werden können. Für die Kirche selbst untersagte Papst Alexander III. 1163 die Praxis einer Pfandleihe oder moderner gesprochen Hypothek, die auf Immobilien gegeben wurde und im Französischen und Englischen mort-gage / mortgage heißt. Die angeblich zinslose Pfandleihe bestand darin, dass die Einkünfte des hypothekierten Objekts (ein wirtschaftlicher Betrieb) während der Laufzeit des Kredits dem Kreditgeber, also hier der betreffenden kirchlichen Einrichtung, zufiel (cf. Wucherzins..., S. 19). Obwohl es sich damit um einen klaren Fall von Wucher handelte, allerdings zunächst reichere, adlige Kreditnehmer betraf, gewissermaßen in einer Art Steuerpacht (wie die “Zöllner” in der Bibel), bevor sich die Praxis veränderte und auch die ländliche Bevölkerung betraf(cf. Fossier), brauchte die kirchliche Autorität Jahrhunderte der Anti-Wucher-Predigt und noch 300 Jahre nach dem Fall kirchlichen Wuchers in Laon (siehe oben), um diese Praxis 1163 schließlich zu verbieten - durch den Papst jedenfalls, auf dessen Autorität innerhalb der Kirche kommen wir noch zu sprechen. Eines jedoch gleich hier dazu: Während in der Normandie die mort-gage offenbar nach dem Verbot aufgegeben wurde, erfreute sie sich in anderen Regionen wie in Flandern und Lotharingien (ein historisch über das französische Lothringen nach Belgien und Burgund hinausreichendes Gebiet) fortgesetzt einer “weiten Verbreitung” unter Klerikern, , wie einer Studie hierzu zu entnehmen ist, “während sich die Laien ohnehin nicht davon betroffen sahen.” (Werveke, S. 55). So waren diese Formen der Pfandleihe auch im Reich weit verbreitet und nach ihrer Inkriminierung erfand man geniös andere Formen, wie den Pseudo-Verkauf eines Gutes, das dann unter erhöhtem Preis zurückgekauft wurde u.a.m. (cf. Gilomen 1995, S. 120-122). Erwähnen wir noch, dass Mitte des 12. Jh.s die Zisterzienser in England auch in der entstehenden Woll-.(Proto-)Industrie engagiert waren und darüber hinaus zu regelrechten Kreditinstituten gerade auch für den ländlichen Raum wurden (Gilomen 2018, S. 409).Hopfer_Kaufmann-klein

Die theologisch-philosophische Argumentation gegen den Wucher bezog sich nicht nur auf die Bibel, sondern auch auf antike Philosophen . Gemeinsame Grundlage war dabei das Verständnis von Wertschöpfung durch Arbeit: Nur durch Arbeit, und damit war produktive Arbeit gemeint (Landwirtschaft, Handwerk...), konnte ein Wert entstehen, Geld konnte sich nicht selbst vermehren. In diesem Sinne wurde Handel allgemein nur akzeptiert, wenn damit auch Arbeit verbunden war, so durch Transporte über weite Wege, Schiffsfahrten usw. Doch selbst das war nicht von Anfang an der Fall. Theologisch verstand sich die Kirche noch lange Zeit als Armenkirche - nicht in der Praxis, wo Reichtümer angehäuft wurden, die ja aber nicht als persönliche galten -  und mit Verweis auf die Todsünde der Habgier (avaritia) wurden lange noch der Reiche und die Art und Weise, wie er zu Reichtum kam, nämlich durch den Handel, verurteilt. (cf. Le Goff, Kaufleute und Bankiers..., S. 75ff., und Ders., Geld...,

Symptomatisch daher die Veurteilung der Krämer (Kleinhändler) durch Cicero als Betrüger (siehe oben), da sie de facto nichts anderes taten, als eine Ware sozusagen von einer Hand in eine andere zu geben (Zwischenhandel). Dazu gesellten sich dann originäre theologische Reflexionen, die Le Goff in Wucherzinsen und Höllenqualen im Kapitel “Der Zeitdieb” ausführt. Der Wucherer stiehlt die Zeit, die Gottes ist. So schrieb Thomas von Chobham: “Der Wucherer leiht dem Schuldner nichts, was ihm gehört, sondern nur die Zeit, die Gott gehört. Er darf also keinen Gewinn aus dem Verleih fremden Eigentums ziehen.” (zit. in Wucherzinsen..., S. 53). Die Argumentation mutet einerseits schon fast wie die von Marx über den Kapitalisten an: So wie dieser Kapital investiert, das nicht “seines” ist, sondern nur Resultat früherer Ausbeugung von Arbeitskraft, so verleiht der Geldverleiher hier nichts Eigenes, sondern zuvor ebenfalls auf dieselbe Weise, ohne eigene Arbeit erworbenes Geld. Und in Anlehnung an einen Zeitgenossen Marx’, Proudhon, kann man auch sagen, analog galt hier: “Eigentum ist Diebstahl.”  Das wäre sozusagen der soziologische Aspekt und die Brücke zum theologischen liegt im 7. Gebot “Du sollst nicht stehlen.”  Die theologischen Reflexionen erklären  andererseits, dass Zinsen nicht für Arbeit, sondern für den Ablauf der Zeit eingefordert werden, also quasi die Zeit bezahlt wird. Die Zeit gehört jedoch zur natürlichen Ordnung und ist Resultat von Gottes Schöpfung, zumal, wie Le Goff treffend feststellte, die mechanische Uhr erst Ende des 13. Jh.s auftauchte, die Zeit damals also durch die Kirchenglocken gemessen wurde (cf. Wucherzins..., S. 53) und, fügen wir hinzu, durch die Sonnenuhren an den Kirchen. Arbeit, Zeit... Letztlich verging sich der Wucherer gegen die Schöpfung selbst, wie Thomas von Chobham schreibt: “Der Wucherer möchte, ohne zu arbeiten und selbst im Schlafe, einen Gewinn erzielen, was gegen das Gebot des Herrn verstößt, welches sagt: ‘Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.’” (Wucherzins..., S. 57).

Diese von Le Goff intensiv dargestellten Überlegungen und noch weitere waren Gegenstand einer, wie man heute sagen würde, intellektuellen Diskussion, in einem engen Kreis Gelehrter, zumal es noch keinen Buchdruck gab. Man darf sie nicht als Ausdruck offizieller kirchlicher Ansichten missverstehen, vielmehr versuchten sie umgekehrt diese zu beeinflussen. Was als offizielle Lehrmeinung galt, wurde von den Konzilien beschlossen, und Erklärungen des Papstes waren dem keineswegs ebenbürtig. Der Papst blieb immer noch als Bischof von Rom ein Primus inter pares. Das II. und III. Lateranische Konzil 1139 und 1179 markierten zusammen mit dem Decretum Gratiani 1140 den Höhepunkt der Bekämpfung des Wuchers. Es handelt sich dabei um eine Zusammenstellung aller Beschlüsse und theologischen Lehrmeinungen zum Kirchen, das der in Bologna lebende Mönch Gratian verfasste, eigentlich gar keinen offiziellen Charakter hatte, diesen aber das durch die Aufnahme ins Kirchenrecht bekam. Das Zinsthema hatte darin seinen Platz und es ist mehr als bezeichnend, dass die Hauptpassage diesbezüglich mit der Kasuistik (Fallbeispiel) beginnt, ob es statthaft sei, dass Kleriker Kaufleuten Geld liehen um aus deren Handel Gewinn zu ziehen, was natürlich verneint wurde (cf. Schaub, S. 137).

Im Mittelpunkt stand jedoch nach wie vor die Kirche selbst. Aus dem bisher Dargelegten wird klar, warum Papst Gregor VIII. in einem Rundschreiben 1074 erklärte: “Manche von denen, die Wucherer zu exkommunizieren pflegen, werden (selbst) Wucherer. Wenn der Wucher am Laien als Vergehen (crimen) gilt, muß er nicht viel mehr am Geistlichen als Verbrechen (scelus) erachtet werden?” Und Franz Schaub ergänzt: “Das allgemeine Zinsverbot konnte unmöglich durchdringen, solang es vom Klerus noch vielfach mißachtet wurde.” (Schaub, op., cit., S. 126). Dem Wortlaut des Papstes zufolge können man meinen, dass Exkommunikationen diesbezüglich damals häufig ausgesprochen wurden (“zu exkommunizieren pflegen” in der Übersetzung), doch ist dies wohl kaum so zu verstehen, in Ermangelung von Belegen aus jener Zeit.

Dsa II. Lateranische Konzil regelte immer noch zuvorderst die Geldproblematik innerhalb der Kirche, Simonie (Ämterkauf/-verkauf), Luxus und eben Zinsnahme, Lateran III dehnte dies dagegen in Kanon 25 auf die Allgemeinheit aus und ordnete an, dass Wucherer kein christliches Begräbnis bekommen dürfen, wenn sie “in dieser Sünde” sterben. Das ermöglichte ihnen die späte Reue, im Zweifelsfall auf dem Sterbebett. Wie das unrechtmäßig erworbene Geld zurückzuerstatten sei und ob Erben diese Erbschaft überhaupt antreten könnten, darüber haben sich die Gelehrten über zweihundert Jahre lang ausgetauscht. Nur 46 Jahre nach Lateran III relativierte das IV. Lateranische Konzil wieder die Zinsregelung und sprach nur noch davon, dass sich die Christen darin “beschränken” und auch die Juden, die im Mittelpunkt der Kritik standen, “keine übermäßigen Zinsen” von Christen verlangen dürften.

De facto gab es also gar kein ”Wucherverbot” seitens der Kirche als gesellschaftliche Norm, allenfalls der konziliare Beschluss von 1179 würde dem entsprechen, aber er wurde 1215 schon wieder revidiert, weil er realitätsfern und erfolglos war: “Je mehr die Christenheit im Zinsnehmen beschränkt wird...” oder in anderer Übersetzung “Je mehr sich die christliche Religion in der Eintreibung der Wucherzinsen Einschränkungen auferlegt...” beginnt der Konzilsbeschluss 1215, um sich dann gegen die Juden zu wenden, und macht damit deutlich, dass ein Verbot nicht mehr zu denken war, allenfalls an eine Beschränkung der Zinshöhe. Das gefiel nicht allen Theologen und einige bestritten diese Interpretation, v .a. im Hinblick auf jüdische Geldverleiher (cf. Gilomen 2018, S. 433ff.). Trotzdem wurde diese Differenzierung dann auch gesellschaftliche Norm. Der Konzilsbeschluss rückte nicht nur vom wortwörtlichen Zinsverbot ab, durch seine Formulierung bestätigte er sogar die Praxis der Zinsleihe von Christen. In einer weiteren Sammlung des Kirchenrechts 1234 unter Papst Gregor IX. in einem Buch, das Liber Extra genannt wurde, heißt es: “Wer zu Schiffe oder zu Land zu den Märkten reist, um dort eine bestimmte Geldsumme zu verleihen, für die er, weil er sich einer Gefahr aussetzt, über das Kapital hinaus wesentlich mehr zurückerhält, ist als Wucherer einzuschätzen.” (Liber Extra X 5, 19 De usuris c. 19, Übersetzung in Ebel/Thiemann, S. 168). Auch hier muss die Interpretation genau auf die Wortwahl achten: ultra sortem übersetzen die Herausgeber mit “wesentlich mehr”, so eindeutig ist dies jedoch nicht. 

Etwas Licht kommt in die Sache, wenn man sich mit dem Autor des Liber Extra befasst. Die Sammlung wurde von dem katalanischen Dominikaner Raimund von Pennafort (Penyafort) in Rom erstellt, der schon im Vorfeld ein eigenes Werk zur kirchlichen Rechtslehre geschrieben hatte, in dem er durch Fallbeispiele eine kasuistische Interpretation vornahm (Summa Casuum oder Summa casibus poenitentiae). Dies leitete eine Wandlung in der kirchlichen Zinstheorie ein, indem man begann, zwischen usura und interesse zu unterscheiden, intérêt, interest heißen heute noch die Begriffe für Zins auf Französisch und Englisch. Damit wurde ein bestimmtes “Interesse´” des Geldverleihers legitimiert, indem man argumentierte, dass er für den Zeitraum des Verleihs keinen Nutzen aus seinem Geld ziehen konnte, somit objektiv einen Schaden erlitt. Für das “Überlassen des Vorteils” oder “Gewinns” (lucrum cessans) dürfe er also eine angemessene Entschädigung erwarten (cf. u.a. Lessel, S. 19-22; Gilomen 1990, S.ö 276-278).

Diese Entwicklung zog sich mit Kontroversen unter den Gelehrten über das 13. Jh. hin, die sich sehr in sophistische Details verstrickten. So erlaubte z.B. Thomas von Aquin, ein Wuchergegner, dass der Kreditgeber Geschenke annehmen dürfe, bevor der Kredit gegeben wurde und unter der Voraussetzung, dass dabei kein “stillschweigendes Abkommen” mit dem Kreditnehmer vorliege (cf.  Lessel, S. 36). Aber Thomas ließ auch die Entschädigung des Kreditgebers für entgangenen Gewinn zu (als interesse oder damnum - Schaden bezeichnet)(cf. Lessel, S. 50). Dann hatten die Theologen schon seit längerem eine Ausnahme vorgesehen, seltsamerweise nämlich, wenn es sich um die Aufnahme eines Kredit aus Not handelte (cf. Lessel, S. 52). Warum ausgerechnet in diesem Fall? Stand das nicht konträr zum Sinn des biblischen Zinsverbots? Die Logik war wohl die, dass die Not den Schuldner dazu zwang, sich Geld zu besorgen, aber niemand verpflichtet war, es ihm gratis zu leihen. Damit wurde indirekt anerkannt, das Geldleihe eigentlich nicht interesselos erfolgen konnte. Diese Notkredite waren aber gerade die Verbrauchskredite, die die Armen in die Schuldenfalle trieben! Dann unterschied Thomas auch noch zwischen Privat- und Geschäftsdarlehen: Während erstere dem Wucherverbot unterlagen, wurden letztere davon ausgenommen, weil der Kredit an einen Kaufmann diesen ermöglicht, damit Gewinn zu erzielen, folglich könne auch der Darlehensgeber daran beteiligt werden. Dies ermöglichte bzw. legalisierte in den Augen des Theologen die italienische Geschäftsform der Commenda, wonach ein Finanzier als stiller Teilhaber Handelsreisen, v.a. über See, finanzierte, die sein Compagnon der Kaufmann durchführte, wonach sich beide den Gewinn teilten.

 

4. Die gesellschaftliche Realität

Thomas von Aquin (ca. 1225-1274) und Albertus Magnus (ca. 1200-1280) erkannten auch an, dass der Staat nicht gezwungenermaßen das Zinsverbot durchsetzen musste, ja, dass seine eigenen Interessen sogar gegenteilig sein konnten, da er auf das Gemeinwesen und nicht auf die moralische Integrität des Einzelnen zu achten habe (cd. Lessel, S. 54).

Das 2. Konzil von Lyon 1274 verschärfte wieder das Zinsverbot und forderte die weltliche Macht zur Vertreibung aller fremden Wucherer auf, was der französische König Philipp III., wie schon sein Vater, hinsichtlich der italienischen und südfranzösischen Wucherer, Lombarden und Caorsen, versuchte, jedoch mit wenig Erfolg, sein Nachfolger Philipp IV. wies die jüdische Bevölkerung 1306 aus den königlichen Territorien aus, sie wurde aber kurze Zeit später wieder zugelassen, anders als in England, wo die Juden definitiv 1290 vertrieben wurden und Christen Bocca de Leon-smalldie Finanzgeschäfte alleine weiterführten.

Verbote und Vertreibungen christlicher Wucherer hatten nicht nur wenig Erfolg, weil sie, anders als die Juden, per se nicht identifizierbar, von “ehrlichen” Kaufleuten nicht unterscheidbar waren, sondern weil die Könige selbst Ausnahmeprivilegien vergaben, d.h. in einzelnen Städten Wucher explizit zuließen (Gilomen 1990, S. 285). Die moralische Frage des Wuchers blieb auch im 14. Jh. und darüber hinaus aktuell, allerdings unterschied man jetzt deutlich zwischen erlaubtem und nicht erlaubtem Zins. Dafür begannen die Städte schon im 13. Jh., Regelungen für den Geldverleih mit einer Zinsobergrenze festzulegen, so wurde z.B. im Zürcher Richtebrief von 1308 die Zinsgrenze für “Caurssin” (Cahorsen) und Juden festgelegt. Die Auseinandersetzung darum blieb aktuell, weil immer wieder versucht wurde, die festgelegten Grenzen zu überschreiten.

Welche Macht die Predigt, das kirchliche Ritual überhaupt und die Glaubensvorstellungen im weitesten Sinne über die Laien hatten, ist pauschal schwer einzuschätzen und war in der Realität sicher sehr unterschiedlich. Im Allgemeinen wird wohl die Macht der Kirche über die Gläubigen als zu groß eingeschätzt, wenn demgegenüber in einem Exemplum von Jakob von Vitry über Ludwig  IX., den Heiligen (König von Frankreich 1226-1270), erzählt wird, wie Le Goff berichtet, dass “mitunter auch manche Gläubige während der Predigt die Kirche verließen: Sie erlagen der permanenten Versuchung des großen Konkurrenten auf der anderen Straßenseite: der Taverne. Als dies sich einmal im Beisein Ludwigs des Heiligen zutrug, ließ er empört die verirrten Gemeindemitglieder zum Wort Gottes zurückholen.” (Wucherzinsen..., S. 16). Dieses Zeugnis ist insofern besonders interessant, als es ganz und gar unwichtig ist, ob es sich so zugetragen hat oder ob Jakob dem König nur eine von vielen frommen Taten zuschreiben oder andichten wollte. Denn die Geschichte belegt in jedem Fall die Sicht Jakobs auf die Gläubigen, die offenbar wenig fest im Glauben waren, wenn sie die Messe sogar unter Präsenz des Königs (!) zugunsten der Taverne verließen.  Daher sollte man der Kirche nicht mehr Autorität zuschreiben, als sie es selbst tat.

“Die Christenheit folgte den kanonischen Geboten nicht. [...] Wucher war schlimmste Sünde, doch kein Verbrechen”, schreibt Johannes Fried und zitiert auch Beispiele, wie man sich im Zweifelsfall sein Seelenheit retten konnte, letztlich durch eine Spende an die Kirche selbst, eine Art Ablass. “ Das weltliche Recht folgte freilich den kirchlichen Vorgaben in der Regel nicht, es  suchte bestenfalls die Zinshöhe zu normieren”, heißt es weiter, und die Kirche selbst hielt sich nicht an ihr eigenes “Wucherverbot”. Fried gibt dazu noch einige Beispiele, die hier nicht im einzelnen zitiert wurden. Zu erwähnen ist noch, dass die reichen Händler und Bankiers, das städtische Bürgertum, auch zu den Finanziers der Kathedralen gehörten,  und zwar im ursprünglichen Wortsinne: als Spender erheblicher Summen, die dafür notwendig waren (cf. Kraus). Für diese gute Tat erhielt man Absolution von den Geldsünden.  in der Kathedrale von Chartres durften sich Kaufleute und Geldwechsler als Stifter sogar in einem Kirchenfenster ehren.

Schlussfolgerung von Johannes Fried: “Gewinnabsicht, ZIns, Wucher, jegliche Mehrung des eingesetzten ‘Kapitals’ durchsetzten die gesamte Gesellschaft,  von Ausnahmen abgesehen, nahezu alle Gemeinschaften, jedes Königreich, jede Provinz, jede Stadt und jedes Dorf, die Kirche nicht ausgenommen. Wie sollte das Gerechtigkeit walten, die Herrscherin des ‘guten Regiments’?”

Zum Schluss sei noch betont, dass die Gegenüberstellung von christlichem Zinsverbot und jüdischer Geldleihe, die dann sozusagen ein Monopol der Juden gewesen sei, ein Mythos ist, der leider bis heute noch stark verbreitet ist. Mehr dazu auf den einschlägigen Seiten von www.juedischegeschichte.de sowie in Geiger 2012.

Stand: 3.7.2019

 

 

Schuldknechtschaft >Wikipedia
Wucher >Wikipedia
Zinswucher >Wiklipedia

Rudolf Düll: Das Zwölftafelgesetz, München (Bibl. Tusculum) (4)1971, S. 94.

Vgl. Frank Kolb: Das Zinsverbot in Antike und Christentum. Vorrag an der >Uni Tübingen 2004

Hubert Seiwert: “Ethik in der chinesischen Kulturtradition”, in: Peter Antes (Hg.): Ethik in nichtchristlichen Kulturen. Stuttgart (Kohlhammer) 1984, S. 136-167.

Marcus Tullius Cicero, Von den Pflichten. Gesammelte Werke. Dachau (Musaicum), 2017, , S. 1209-1418 [Dt. Übers.]

2 Mose 22 >Bibel Online

 

 

 

 

 

 

 

Die “Reinigung des Tempels” = Vertreibung der Geldwechsler durch Jesus aus dem Tempel, Kirchenfenster in St- Aignan, Chartres, 16. Jh.
Foto Reinhard Hauke >Wikimedia Commons

Rodophe Kasser / Marvin Meyer / Gregor Wurst (Hg.): Das Evangelium des Judas. aus dem Codex Tchacos. Wiesbaden (National Geographic / White Star) 2006.

 

 

 

 

Bild: Darstellung des Konzils von Konstantinopel 381, Buchmalerei in den Homilien des Gregor von Nazianz  8ca. 329-390), Teilnehmer des Konzils, in einer Abschrift um 680. BNF, >Wikipedia

1. Konzil von Nicaea >Wikiepdia

1. Konzil von Konstantinopel >Wikiepdia

 

 

 

 

 

Codex Theodosianus 2.33.3-4; “[...] ultra medietatem centesimae [...]” >Ancient Rome,

Codex Iustinianus >Opera Platonis

Zum Verständnis: Gustav Billeter: Geschichte des Zinsfusses im griechisch-römischen Altertum bis auf Justinian, Leipzig (Teubner), 1898, S. 331f.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zu Hinkmar von Reims und dem Wucher in Laon cf. Gerhard Schmitz: “Wucher in Laon. Eine neue Quelle zu Karl dem Kahlen und Hnkmar von Reims”, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, 1981, S. 529-558, hier S. 540f., 544-556, online
Verweis auf H. Fichtenau: Das karolingische Imperium. Soziale und geistige Problematik eines Großreichs (1949), S. 159f.

Dieter Hägermann: Karl der Große. Herrscher des Abendlandes. Berlin (List) 2003.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Naturalwirtschaft und Münzgeld; Zur Kaufkraft- berechnung vgl. “Was blieb der Land- bevölkerung im Mittelalter zum Leben?” hier auf der Seite >Fallbeispiel 820.
Nach der Preisfestsetzung Karls d. Gr. konnte man für einen Denar 12 Weizenbrote oder 25 Haferbrote zu 2 Pfund (816 g) kaufen. 12 Weizenbrote karolingischen Maßes würden heute nach dem durchschnittlichen Preis von 0,35 € pro 100 g ca. 34 € kosten.  und dabei waren damals Lebensmittel strukturell viel teurer gegenüber der Kaufkraft als heute. Berechnung Ernährung: 812g = 2021 kal, täglicher Bedarf bei körperliucher Arbeit ca. 4800 kal.

Bruno Kuske: “€žDie Entstehung der Kreditwirtschaft und des Kapitalverkehrs”, in: Die Kreditwirtschaft, 1. Teil Kölner Vorträge, Leipzig (Gloeckner), 1927, 1-79. Siehe auf HIstoria Universalis

Cf. das Dokument der Gräfin Dhuoda sowie weitere frühe Zeugnsse des Geldverleihs auf juedischegeschichte.de >Mittelalter 2Juden und Christen als Geldverleiher”, und das .Speyerer Judenprivileg dort auf >Mittelalter1 “Die Kirche und das Judentum”

Franz Schaub: Der Kampf gegen den Zinswucher, ungerechten Preis und unlautern Handel im Mittelalter. Von Karl dem Großen bis Paps Alexander III. Freiburg i. Br. (Herder) 1905.

Speyerer Judenprivileg auf juedischegeschichte.de >Mittelalter1; Christen, Juden und der Geldverleih >Mittelalter2

Ambrosius von Mailand >Wikipedia
Thomas von Aquin >Wikipedia

Cf. Jacques Le Goff: Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter. Mit einer Einführung von Johannes Fried. Stuttgart (Klett-Cotta), 2. überarb. Aufl.  2008.

Ausschnitt aus der Psychomachie im Straßburger Münster, dem Kampf der Tugenden gegen die Sünden, vermutlich 14. Jh.
 Largitas = die Großzügigkeit besiegt Avaricia (altlat. avaritia) = die Habgier.
Obere Reihe der Kirchenfenster Nordseite, erstes Fenster nach dem Eingang.
Foto: W. Geiger

Mammon >Wikipedia

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wasserspeier an der Jakobskirche in Göttingen, Figur des Habgierigen. Restaurierte Skulptur von 1890, das verwirrterte Original von 1380 ist in der Kirche zu sehen und dient heute als “Spendenbüchse”.

Foto: W. Geiger

Zur Champagne-Messe in der Stadt Troyes siehe auf der Seite >Geld im Mittelalter

 

 

 

Franziskaner >Wikipedia
Dominikaner >Wikipedia

 

Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter. Stuttgart (Klett-Cotta) 2011.

 

Jakob von Vitry >Wikipedia
Thomas of Chobham <Wikipdia
Caesarius von Heisterbach >Wikipedia

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Robert Fossier: “Mort-gage et autres prêts en Picardie au XIIe ciècle”, in: M. Berthe (Hg.): Endettement Paysan & Crédit Rural dans l’Europe médiéval et moderne. Actes des XVIIe Journées Internationales d’Histoire de l’Abbaye de Flaran, Septembre 1995. Toulouse (Presses Universitaires du Mirail) 1998, S. 23-33.

Hans-Jörg Gilomen (1995): “L’endettement paysan et la question du crédit dans les pays d’Empire au Moyen Âge”, in: Berthe, op. cit., S. 99-138.

Hans van Werveke: “Le mort-gage et son rôle économique en Flandre et en Lotharingie”, in: Revue belge de philologie et d’histoire, Bd.. 8, H. 1, 1929, S. 53-91. Online auf Persée.

Hans-Jörg Gilomen (2018):”Das kanonische Zinsverbot und seine theoretische und praktische Überwindung? Mitte 12. bis frühes 14. Jahrhundert”, in: Werner Maleczeck (Hg.): Die römische Kurie und das Geld. Von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zum frühen 14. Jahrhundert. Ostfildern (Thorbecke) 2018, S. 405-449.

Bild: Die Polemik gegen den sündigen Kaufmann hielt auch zu späteren Zeiten noch an, Kupferstich von Daniel Hopfer  (1470-1536), aus Georg Steinhausen: Der Kaufmann in der deutschen Vergangenheit. Bücherei des Verbandes Deutscher Handlungsgehilfen zu Leipzig, Jena (Diederichs) 1912, Abb. 73, betitelt: “Der reiche Kaufmann.“ Herkunftsangabe: München, Kupferstichkabinett. Ohne Datierung (ca. Anfang 16. Jh.).

Jacques Le Goff: Kaufleute und Bankiers im Mittelalter. Berlin (Wagenbach) 2005. (Frz. Orig. Paris 1956).,

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Decretum Gratiani >Wikipedia
Gratian >Wikipedia

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Canones von Lateran III (in englischer Übersetzung)  >EWTN

 

 

 

Zum Beschluss von Lateran IV  in der Übersetzung von Höxter siehe auf juedischegeschichte.de  >Mittelalter1, in neuerer Übersetzung in: Julius Schoeps / Hiltrud Wallenborn (Hg.):  Juden in Europa. Ihre Geschichte in Quellen. Band 1: Von den Anfängen bis zum späten Mittelalter. Darmstadt (WBG)  Hiltrud; S. 115.

 

 

 

 

 

Friedrich Ebel / Georg Thielmann: Rechtsgeschichte. Von der Römischen Antike bis zur Neuzeit. Heidelberg (Müller) 3. Aufl. 2003.

Raimund von Penyafort >Wikipediu

Karl Lessel: Die Entwicklungsgeschichte der kanonistisch-scholastischen Wucherlehre im 13. Jahrhundert. Luxemburg (Paulus-Gesellschaft) 1905.

Hans-Jörg Gilomen (1990): “Wucher und Wirtschaft im Mittelalter”, in: Historische Zeitschrift, Bd. 250, 1990, H. 2, S. 265-301.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Albertus Magnus >Wikipedia

 

 

 

 

 

 

 

 

“Bocca de Leon” (wörtl. “Löwenmaul”) in Verona am alten Ratshaus, Palazzo del Commune, an der Piazza dei Signori.
Foto: W. Geiger

Inschrift wörtlich:
“Geheime (=vertrauliche, anonyme)  Denunziation gegen (=für) die Wucherer und Wucherverträge jedweder Art”

Installierte wurde dieses “Löwenmaul” vielleicht 1310 als Beschwerdebriefkasten am Rathaus von Verona. (Nach Angaben einer Seite auf Wordpress)

Züricher Richtebrief u.a. Quellen zum Zinsverleih bei Christen und Juden cf. juedischegeschichte.de >Mittelalter2

 

 

 

Ludwig XI., der Heilige >Wikipedia

 

 

 

 

 

 

Henry Kraus: Gold was the Mortar. The Economics of Cahtedral Building, London (Routledge & Kegan Paul) 1979, frz.: L’argent des cathédrales, Paris (Cerf) 1991, (Cerf/CNRS) 2012.

Kathedrale von Chartres >Geld im Mittelalter

J. Fried: Zins als Wucher, Einführung in Le Goff, Wucherzns und Höllenqualen, op. cit. (siehe oben), S. 143, 154, 144.

Wolfgang Geiger: Zwischen Urteil und Vorurteil. Jüdische und deutsche Geschichte in der kollektiven Erinnerung. Frankfurt a.M. (Humanities Online) 2012.