Ernest Renan über über die Ungleichheit unter den Menschen
[1. Sklaverei und Zivilisierung]
»Wenn jemals die Sklaverei notwendig für die Existenz der Gesellschaft gewesen ist, so war die Sklaverei legitim. [...] Die Unterordnung der Tiere unter den Menschen, der Geschlechter untereinander, schockiert niemanden, weil sie das Werk der Natur und der schicksalshaften Organisation der Dinge ist. Im Grunde ist die Hierarchie der Menschen nach ihrem Grad an Vollkommenheit auch nicht schockierender. Schrecklich ist nur, daß der Einzelne nach seinem Recht und zu seinem persönlichen Vergnügen seinesgleichen ankettet, um von seiner Arbeit zu profitieren. Die Ungleichheit ist empörend, wenn man nur den persönlichen und egoistischen Vorteil betrachtet, die der Höherwertige aus dem Minderwertigen zieht; sie ist natürlich und gerecht, wenn man sie als ein Schicksalsgesetz der Gesellschaft betrachtet, als ihre zumindest vorübergehende Bedingung zur Vervollkommnung. [...] Die Freilassung der Schwarzen haben die Schwarzen weder erkämpft noch verdient, sondern es ist die Folge des zivilisatorischen Fortschritts ihrer Herren. [...] Gewiß, wenn es eine dringliche und überfällige Reform gibt, dann ist es diese. Aber wir folgern daraus, daß man auf die Schwarzen übergangslos das Regime der individuellen Freiheit anwenden müsse, das auch uns Zivilisierten zusteht, ohne daran zu denken, daß man zuallererst die Erziehung dieser Unglücklichen gewährleisten muß und daß dieses Regime dafür nicht geeignet ist. [...] Es ist gewiß, daß sich die Zivilisation nicht improvisieren läßt, daß sie eine lange Disziplin erfordert und daß es den ungebildeten Rassen einen schlechten Dienst erweisen heißt, sie auf einen Schlag zu emanzipieren. [...] Die Sklaverei erzieht den Schwarzen nicht, die Freiheit tut es genauso wenig. Als freier Mensch wird er den ganzen Tag schlafen oder wie ein Kind durch die Wälder streifen. Im radikalen Abolitionismus liegt eine profunde Unkenntnis der Psychologie der Menschheit. So kann ich mir gut vorstellen, daß das wissenschaftliche und experimentelle Studium der Erziehung des wilden Rassen [Hervorheb. im Text] eines der schönsten Probleme wird, die sich dem europäischen Geist stellen, wenn sich denn die Aufmerksamkeit Europas einen Augenblick lang von sich selbst abwenden kann.«
L’Avenir de la Science, Paris 1890 [verfasst 1848/49], zit. nach: Ernest Renan: Histoire et parole. Oeuvres diverses, choix de textes et commentaires de Laudyce Rétat, Paris: R. Laffont (coll. « Bouquins »), 1984, 293f. (Übers. W. Geiger)
[2. Die Konsequenzen der Ungleichheit]
»Die Eroberung des Landes einer niederen Rasse durch eine höhere Rasse, die sich dort etabliert, um es zu regieren, hat nichts Schockierendes an sich. [...] So sehr Eroberungen zwischen gleichwertigen Rassen zu tadeln sind, so sehr ist die Regenerierung der niederen oder bastardisierten Rassen durch die höheren Rassen in der Vorsehung der Menschheit begründet. [...] Die Natur hat Arbeiterrassen geschaffen: das ist die chinesische Rasse, mit einer wunderbaren Geschicklichkeit der Hand, fast ohne jegliches Ehrgefühl; regiert sie gerecht, indem ihr von ihr zum Wohle einer solchen Regierung einen breiten Zins zugunsten der erobernden Rasse nehmt, und sie wird es zufrieden sein; – eine Rasse von Landarbeitern, das ist der Neger; seid gut und menschlich zu ihm, und alles wird in bester Ordnung sein; – eine Rasse von Herren und Soldaten, das ist die europäische Rasse. Erniedrigt diese edle Rasse zum Frondienst wie die Neger und die Chinesen, dann revoltiert sie. [...] Das Leben, das unsere Arbeiter aber zur Revolte bringt, würde einen Chinesen, einen Fellachen glücklich machen. [...] Die Kolonisation im Großen ist eine politische Notwendigkeit von höchstem Rang. Eine Nation, die nicht kolonisiert, ist unwiderruflich dem Sozialismus, dem Krieg zwischen Arm und Reich ausgeliefert.«
Ernest Renan, La réforme intellectuelle et morale, Bruxelles: Eds. Complexe, 1990 [verfasst 1871], 92-94. (Übers. W. Geiger)
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