1. Von der Freiheit des Christenmenschen - Aufbegehren gegen die Obrigkeit. Glaube und Politik im Zeitalter der Reformation.
Einleitung
Das Wirken Luthers wie auch anderer Reformatoren, namentlich Calvins, stand im Spannungsfeld zwischen Theologie und Politik und bezog daraus auch seine besondere Kraft. Trotzdem steht gerade dieser Aspekt wenig im Zentrum der Erinnerungskultur bzw. des schulischen Unterrichts, vielleicht auch, weil er durch Luthers harte Verurteilung der aufständischen Bauern abgehandelt erscheint, im negativen Sinne, was er aber nicht ist. Deswegen sollen auf den anschließenden Seiten zunächst die "politischen Schriften" Luthers aus seiner frühen Zeit in Auszügen auf diese spezifische Verknüpfung von theologischen Begründungen politischen Handelns dokumentiert und kommentiert werden (Teil 1) sowie im Anschluss daran Schriften Calvins und späterer Calvinisten als Zeugnisse einer Kritik des (Früh-)Absolutismus (Teil 2) und mithin Wegbereitung eines demokratischen Gedankens in der Neuzeit.
Das im Zeitalter der Reformation und durch die Reformation neu entstandene Verhältnis zwischen Religion und Politik - Religion hatte vorher schon durch ihre legitimatorische Funktion von Herrschaft auch eine politische Rolle - beschreibt Peter Marshall in seinem in der englischen Originalausgabe mit wunderbarem britischen Understatement “a very short introduction” untertitelten Buch über die Reformation in Europa (deutscher Titel) so:
Die verschiedenen Identitäten, die während der Reformation entstanden und miteinander konkurrierten, fanden sich rasch auf das lebhafteste in politische Abläufe verstrickt; so zeigten sich Beziehungen zwischen Staaten und zwischen Regierenden und Regierten bald in einer nie gekannten Deutlichkeit ideologisch geprägt. Tatsächlich war die Reformation die erste hroße Ära ideologischer Politik, und im 16. und 17. Jahrhundert hieß die Ideologie Religion. [...]
Im späten 20. Jahrhundert belehrte man uns: “Das Private ist politisch”; nun, im späten 16. Jahrhundert war Frömmigkeit politisch - und absolut keine Privatsache. [...] Entgegen dem, was der moderne Mensch erwarten dürfte, agierte die Religion diesmal als Motor der Modernisierung. Sie hatte ihren Teil daran, dass neuartige Gesellschaften entstanden: uniformer, gehorsamer, inspiriert von patriotischer und frommer Identifikation mit dem lutherischen, calvinistischen oder römisch-katholischen Heimatland. [...]
Wenn Untertanen, die eine religiöse Minderheit bilden, ihren andersgläubigen Herrscher herausfordern, ist dies an sich schln politisch, aber die Herausforderer wollten zusätzlich, dass man ihr Agieren legal und ethisch berechtigt fand. Erneut ergab sich eine Entwicklung von großer Tragweite: wie nie zuvor wurde nun reflektiert, wo die Grenzen der politischen Gehorsamspflicht lägen, ja, es entstanden regelrechte Theorien des Widerstands gegen die Obrigkeit.
Aufstände und Empörungen gegen die Obrigkeit gab es auch schon vorher, seit Beginn des Hochmittelalters, mit dem großen Aufstand der Kölner Bürger, hier der Patrizier, gegen Erzbischof Anno II 1074 als erstem großem Fanal. Aufstände in den Städten gegen die adligen oder kirchlichen Stadtherren, dann der Zünfte gegen die herrschen Patrizier, und auf dem Land der Bauern gegen ihre Grundherren, durchzogen das ganze Mittelalter. Ausgelöst durch Übergriffe der Herrschenden, wie in Köln 1074, empfundene oder reale Ungerechtigkeiten, waren diese Aufstände meistens Ausdruck eines mit Gewalt durchgesetzten Anspruches, für den es nur selten eine (zumindest theoretisch) einklagbare Legitimation gab: Auch wenn sie moralisch im Recht fanden, konnten sich dabei auf keine offiziell gültige Moral berufen.. Die irrationalen Geißlerzüge und andere Desperado-Bewegungen seit der Großen Pest Mitte des 14. Jh.s beriefen sich zwar auf die Religion, aber in einem apokalyptischen Sinne des Jüngsten Gerichts, das man in die eigenen Hände vorwegnehmen wollte. Zum Ende des Mittelalters hin entstanden dann Beschwerden und Forderungen, die eine rechtliche Grundlage für sich beanspruchten und altes, von der Obrigkeit missachtetes Recht einforderten. Weltliches und Geistliches kam hier zusammen, zuerst bei den Hussiten. Jan Hus kann als der erste Reformator gelten, und Luther sah in ihm einen Vorreiter und Inspirator, der die Themen ansprach, die hundert Jahre später ganz Europa erfassten, weil Luther nicht unter Bruch des Versprechens auf freies Geleit auf dem Wormser Reichstag 1521 verhaftet und dann dem Feuertod übergeben wurde wie Jan Hus 1415 auf dem Konstanzer Konzil.
Der Wahrheitsanspruch der reformatorischen Überzeugung griff auch tief in kirchliches und weltliches Recht ein, diesen ebenfalls zu wenig beachteten Zusammenhang stellt Martin Heckel heraus. Gewiss, Geistliches und Weltliches, Kirche und Gesellschaft, Theologie und Politik, Moral und Recht hingen auch vorher schon eng zusammen, doch mit der Reformation wurde dies noch politischer und auf andere Art: nicht mehr nur legitimatorisch, sondern auch widerständisch, wobei der Widerstand, das Aufbegehren gegen die Obrigkeit selbst wieder der Rechtfertigung bedurfte. Luthers Aufbegehren, ursprünglich nur als innerkirchliche Kritik gedacht, wurde sofort politisch und zwar durch einen Umstand, den Heckel sehr treffend benennt:
Es zählt zur tiefen Tragik der Reformationsgeschichte, dass der Bann Luthers schon ganz am Anfang die kirchliche Gemeinsamkeit zwischen den Katholiken und den Evangelischen zerschnitt und die Evangelischen aus der katholischen Kirche hinausdrängte, ausgrenzte und dauerhaft ausschloss, da ein Unionskonzil nicht zustande kam. Infolgedessen fand die jahrzehntelange Auseinandersetzung über ihre geistlichen Differenzen nicht theologisch und kirchenrechtlich auf der kirchlichen Ebene statt, sondern wurde auf dem Forum der Reichsverfassung ausgetragen und dabei hochgradig politisiert und juridifiziert. [---]
Das tiefe geistliche Ringen um den wahren Glauben, die echte Buße, das wirkliche Heil, die rechte Lehre führte nach Ausbruch der reformatorischen Bewegung rasch - und unwiderruflich - zum Zerfall der universalen mittelalterlichen Einheit von Glaube, Recht, Kirche, Reich und aller Obrigkeit. [...] Der Zerfall der Rechtseinheit führte seit den Anfängen der Glaubensspaltung zu der Schicksalsfrage: Wasund auf welcher Seite war eigentlich “das Recht”? Was hieß hier Rechtsgewalt, Rechtsgeltung und Rechtsbruch? Auf welchen Fundamenten ruhte es und welche Prinzipien galten für seine Ausgestaltung, Auslegung und Anwendung?
Die angebliche Gottgewolltheit der bestehenden Ordnung wurde schon dadurch infrage gestellt, als man danach fragte, was Gott eigentlich wollte, und die bestehende Interpretation seines Willens durch die tradierte Bibelauslegung als falsch, ja, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung sogar als vom “Antichristen” stammend geißelte. Inniger verbunden konnten Glaubensfragen und Politik nicht sein und wir müssen uns darüber bewusst sein, dass in voraufklärerischen Zeiten jede Rechtfertigung politischen Handelns letztendlich immer religiös begründet war.
Der Humanismus brachte nun aber schon in eben jener Epoche der Renaissance, in die die Reformation fiel, bereits eine erste Relativierung der geistlichen Autorität über das Weltliche und man kann sich zurecht fragen, wie Luthers Verhältnis zum Humanismus zu bewerten ist. Zunächst stand Luther in sehr enger Beziehung zu den Humanisten, sein Weggefährte Philipp Melanchthon war ein humanistischer Gelehrter, und die Edition des Neuen Testaments im griechischen Original mit einer neuen lateinischen Übersetzung durch Erasmus 1516 in Basel (Novum instrumentum omne), wobei er Übersetzungs- und damit auch Interpretationsfehler der tradierten lateinischen Version fand. Erasmus von Rotterdam war selbst Theologe, was hinter seinem Ruf als größter Humanist seiner Zeit geflissentlich übersehen wird, so wie Humanismus und Reformation generell zu sehr als getrennte Phänomene gesehen werden. Diese Rückkehr ad fontes bei Erasmus hinsichtlich des Neuen Testaments übersetzte das Prinzip des Humanismus in die Theologie und inspirierte auch Luther. Doch die Einigkeit in der Methode implizierte noch keine Einigkeit in der Zielsetzung. Denn gleichwohl lag in der Mensch- und Verstandesbezogenheit des Humanismus eine Grenze für Luther und letztlich für den Primat des Glaubens überhaupt, für den das aus der Antike übernommene Credo Der Mensch, das Maß aller Dinge geradezu atheistisch erscheinen musste. Selbst die mittelalterlichen Versuche, Glaube und Vernunft zu vereinen, ließen am Primat des Glaubens keinen Zweifel, so bei Anselm von Canterburys Motto Credo ut intellegam - Ich glaube, damit ich verstehen kann.
Das Verhältnis zwischen Humanismus und Reformation ist somit sehr komplex, enthält Gemeinsames, aber auch Trennendes. So schreibt Thomas Kaufmann in seinem “Meisterwerk zum Reformationsjubiläum”:
Auch wenn sich viele Humanisten dem christlichen Glauben selbstverständlich verbunden fühlten, muss man die längerfristige Folgewirkung der Bewegung doch im Sinne einer religionskulturellen Diversifizierung und Pluralisierung sehen. Denn nun wurde es möglich, durch gedruckte Texte Zugang zu philosophischen Traditionen zu erhalten, die mit dem Christentum schwerlich vereinbar waren oder als attraktive Alternativen empfunden werden konnten. [...] Neu entdeckte Texte lange bekannter und kanonischer Autoren wie Platon und Aristoteles, die man nach und nach auch in der griechischen Muttersprache zu studieren begann, regten das Denken und wohl auch manche Zweifel an christlichen Wahrheitsansprüchen an. [...]
Die humanistische Parole ad fontes! - “zu den Quellen!” - wertete nicht nur die originalsprachlichen antiken Überlieferungen auf und sorgte für einen immensen Boom der altsprachlichen Kenntnisse, sondern eröffnete auch erste historisch-kritische Relativierungen autoritativer und kanonischer Ansprüche.
Hatten die Theologen des Mittelalters die antiken Autoren, die nicht ihrem Missfallen zum Opfer fielen und letztlich auf dem Index landeten, in christlicher Sicht interpretiert, ja in ihnen gleichsam unbewusst-christliche Denker erkannt und dies mit dem Wirken Gottes erklärt, noch vor der Ankunft Christi Zeugnisse seines Willens bei den Heiden und damit auch außerhalb seines bis dahin auserwählten Volkes der Israeliten zu platzieren, so kehrte sich dieses Verhältnis in der Renaissance geradezu um:
Die Humanisten nördlich der Alpen unternahmen besondere Bemühungen, das Christentum durch die Antike neu zu beleben. Der wichtiste Repräsentant dieses “biblischen” oder Kirchenväter-Humanismus war der in den Niederlanden geborene Theologe Erasmus von Rotterdam [...]. Wie kein zweiter bemühte er sich um eine Reform des Christentums aus dem Geiste der älteren Quellen.
Entsprechendes gilt für das Politische, v.a. bei den calvinistischen Theologen und Kritikern des entstehenden Frühabsolutismus.
Luthers Kritik an der Obrigkeit, die in seinen Frühschriften zum Ausdruck kommt, ist noch ausschließlich theologisch begründet, außerdem entwickelte sich sein Verhältnis zum Politischen ganz anders als bei den Calvinisten. Auf die Kritik am “Adel deutscher Nation” folgte bald die Protektion durch den sächsischen Kurfürsten Friedrich III., die Glaubensspaltung im Reich ließ dann eine ganze Reihe von Territorialherren zum Protestantismus wechseln und zu dessen Schutzherren werden. Somit konnte aus dieser Warte heraus eine allgemeine Kritik der Fürstenherrschaft nicht entstehen und Luther selbst trat ja bekanntlich den aufständischen Bauern verbal in einer Radikalität gegenüber, die nicht einmal sein kurfürstlicher Gönner teilte. Luthers rabiate Verurteilung des Bauernaufstandes hat das einseitige Bild von der Autoritätshörigkeit Luthers geprägt. Luther hat aber auch die Bauern zum Aufstand motiviert, alleine schon der Titel “Von der Freiheit eines Christenmenschen” hat entsprechend gezündet. Haben die Bauern, die Luthers Schrift wohl kaum gelesen haben, aber ihre Absicht zu verstehen glaubten, ihren Autor gründlich missverstanden? Unter anderem dieser Frage werden wir in Teil 1 nachgehen.
In Teil 2 werden die calvinistischen “Monarchomachen” (griech. = “Monachenbekämpfer”) vorgestellt, wie man im 16. Jh. schon die calvinistischen Autoren nannte, größtenteils Theologen und im Falle von Théodore de Bèze sogar Calvins Nachfolger, die den Kern einer gegen den entstehenden Frühabsolutismus gerichteten politischen Bewegung im Kontext des Religionskonflikts bildeten. Die ganz andere Situation der Hugenotten in Frankreich, die nicht von einem “Föderalismus” wie im Reich profitieren konnten und jahrzehntelang im Konflikt mit der königlichen Zentralmacht standen, in einer unablässigen Folge von Gewalttaten und Kriegen um ihre Freiheit kämpften, erklärt, warum diese permanente Auseinandersetzung mit der Monarchie in eine grundsätzlichen Kritik der Monarchie über den konfessionellen Streit hinaus führte. Dies radikalisierte sich insbesondere nach der Bartholomäusnacht 1572.
Stand: 21.10.2017 Wird ergänzt...
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