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Russland und die Ukraine 2022:
Korrektur der Geschichte? Welcher Geschichte?

1. Die Frage der Sprache
2. Die Frage des Namens
3. Die Frage der Geschichte
a) Ursprünge im Mittelalter
b) Frühe Neuzeit
c) Seit dem 18. Jahrhundert
d)
Entstehung der Ukraine als staatliche Einheit in der Russischen Revolution                                 Last update 27.3.2022

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Von Wladimir zu Wladimir 988-2022 (?)

Am 4.11.2016 hat Präsident Putin (auf dem Bild links neben dem Patriarchen) am Kreml das Denkmal für Wladimir I., den Großen, eingeweiht. Er war Großfürst (978-1015) der Rus, des ersten, altrussischen Fürstentums, dessen Hauptstadt Kiew war, und ließ sich 988 christlich taufen. Das spätere Russland (Rossia) und die spätere Ukraine waren hier noch vereint und diese Einheit will Wladimir Putin wieder herstellen - unter russischer Hoheit. Dabei war die Einheit gerade wegen des moskowitisch-russischen Herrschaftsanspruches zerbrochen.

Wladimir der Heilige, zu dem er dann wurde, war Anhänger des alten heidnischen Glaubens und trat wohl aus strategischen Überlegungen zum Christentum über, das er damit auch in seinem Reich einführte. Die Heirat mit Anna, der Schwester des byzantinischen Kaisers Basielos II., sollte ein Bündnis beider Mächte gegen die Bulgaren herstellen, die Wladimirs Reich bedrängten. Da der Kaiser aber noch nicht so überzeugt von dem Bündnis war, unternahm Wladimir Feldzüge gegen das Gebiet der Krim, damals noch unter byzantinischer Hoheit. Unter der Bedingung der Übernahme des Christentums kamen Heirat und Bündnis dann zustande (cf. >Wikipedia). Die Instrumentalisierung der Geschichte zu politischen Zwecken ist Putins Rechtfertigungsstrateige (cf. Schenk, “Das Denkmal...”).). Dass sich Wladimir auf der Krim hat taufen lassen, soll einen “heiligen” Anspruch Russlands auf sie begründen.

Der Zufall - und nicht das Schicksal - will es, dass ein späterer Wladimir, Sohn eines Wladmir, nämlich Putin, diese zerbrochene Einheit der Rus, nämlich Weißrusslands, Großrusslands und Kleinrusslands (Ukraine), wie es dann jahrhundertlang hieß, wieder herstellen will und dabei einen Gegner hat, der den gleichen Namen trägt: Wolodymir Selesnkyi, Präsident der Ukraine. Wolodymir ist die sprachlich ältere Form des Namens, die sich in der ukrainischen Sprache erhalten hat.

Denkmaleinweihung_Wladimir_I._4.11.2016

Einweihung des Denkmals für Wladimir I. in Moskau, 4.11.2016, >Wikimedia Commons. Präsident Putin rechs am Rednerpult.
Vgl. Frithjof Benjamin Schenk: Das Denkmal für Fürst Wladimir,  >kremlin-dekoder

 

Im Folgenden fragen wir nach der Sprache, dem Volk und der Geschichte der Ukraine in ihrem Verhältnis zu Russland und der Herausbildung ihrer ethnischen oder nationalen Identität und einer damit verbundenen territorialen Konturierung

Voelkerkarte_Europa

Die Völkerkarten von Europa von 1912 und 1908 zeigen die Bevölkerung nach Sprachen und Sprachfamilien (z.B. slawische Sprachen), damals nach dem Geist der Zeit auch als “Rassen” benannt. Die Sprachenkarten sind identisch bis auf winzige Details und entsprechen auch anderen gängigen Karten der Zeit und späteren Datums.
Oben: Albert Scheer / Heinrich Fischer / Michael Geistbeck: Stufenatlas für höhere Lehranstalten, Bd. 2 Mittelstufe. Bielefeld / Leipzig (Velhagen & Klasing) 1912,  S. 15.  (PPN74011610X, urn:nbn:de:0220-gd-9950259)
  GEI digital.
Unten: Andrees Schulatlas, in erweiterter Nachbearbeitung herausgeg. von A. Scobel. Bielefeld / Leipzig (Velhagen & Klasing) 1908, S. 18. (GI-II 56(51,04) / urn:nbn:de:0220-gd-9992670) GEI digital.

Voelkerverteilung_Europa

1. Die Frage der Sprache

Russisch und Ukrainisch gehören mit dem Belarussischen den ostslawischen Sprachen an. Die Frage der Eigenständigkeit - sind es verschiedene Sprachen oder nur stärker unterschiedene Dialekte? - hat hier wie auch bei anderen Sprachen im Laufe der Geschichte einen Wandel erfahren. Heute ist die Wissenschaft geneigt, schneller und mit weniger Kriterien eine eigenständige Sprache anzunehmen als früher und dies steht oft auch deutlich unter einem politischen Einfluss, wie man es z.B. auch bei Serbisch und Kroatisch sehen kann, die vor dem jugoslawischen Bürgerkrieg als zwei Dialekte einer Sprache aufgefasst wurden, die zwar keinen Eigennamen hatte, die man dann aber Serbokroatisch nannte. So wurde Ukrainisch früher als “Kleinrussisch” bezeichnet und wie das “Weißrussische” dem “Großrussischen” gegenübergestellt bzw. untergeordnet. Entsprechend tauchen die Sprecher als “Weiß-” und “Kleinrussen” auf den Karten auf. Auch hierin zeigen sich letztlich politische Bedeutungen. Unzweifelhaft ist jedoch, dass Ukrainisch und Russisch eng verwandt sind und in der Geschichte lange nicht als identifikatorisch unterschiedlich wahrgenommen wurden.

Darüber hinaus war die Region, die dann später territorial als Ukraine bezeichnet wurde, historisch multikulturell geprägt: Im Süden, im Steppengebiet nördlich des Schwarzen Meeres,   lebten bis zur russischen Eroberung im 18. Jh. keine Slawen, sondern die turksprachigen Tartaren (oder Tataren) in einem eigenen Khanat (d.h. unter einem Herrscher, der den Titel Khan führte), dem Osmanischen Reich tributpflichtig, d.h. in lockerer Abhängigkeit zu ihm. Im Grenzgebiet auf der anderen Seite lebten Verbände der Kosaken, die, obwohl Slawen, damals und noch lange danach eine eigene ethnokulturelle Identität hatten.


2. Die Frage des Namens

Ukrainisch >Wikipedia

 

 

 

 

 

 

 

Tataren: Khanat der Krim >Wikipedia
Kosaken >Wikipedia

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Nebenbei bemerkt: Diese Karte von 1681 macht auf frappierende Weise deutlich, wie wenig bekannt 1681 die Geographie im Orient, d.h. östlich des Mittelmeers, war, wenn man sich die Konturen des Kaspischen Meeres anschaut. Die anderen Kontinente waren besser bekannt als dieses eurasische Binnenmeer. Auch die geographische Lage Moskaus ist nicht korrekt (siehe unten).

Die Generalkarte Moskowiens oder Großrusslands. Claes Janszoon Visscher, 1681. >Wikipedia

Die Karte zeigt Territorien in unterschiedlicher Farbe, die nicht unbedingt politisch voneinander getrennt sind, so gehören das Großfürstentum Litauen und das Königreich Polen zu einer dynastischen Einheit zusammen(mehr dazu weiter unten), auch kommt der europäische Besitz des Osmanischen Reiches farblich nicht einheitlich heraus.

Das Großfürstentum Moskau ist dagegen als einheitlicher Großraum im Osten erkennbar. Moskau ist viel allerdings zu weit südlich lokalisiert. Südlich Moskaus und kurz vor der Grenze zum Khanat der Tataren ist die Okraina eingezeichnet (siehe Kartenausschnitt).

Das slawische Wort kraj oder krain meint “Rand”, “Grenze” und bezeichnet in mehreren slawischen Sprachen und Regionen ein Grenzgebiet, bekannt ist z.B. au dem Jugoslawienkonflikt die Grenzregion Kraijna in Kroatien. Auch in russischen Quellen taucht der Begriff Ukraine als Grenzland an verschiedenen Stellen auf, also erst nicht spezifisch auf die heutige Ukraine bezogen. Auf der Karte sieht man Okraina an der Grenze zum Kkanat der Tataren. Es wurde als Grenze zwischen den sesshaften Slawen und nicht-sesshaften, d.h. nomadischen, Tataren aufgefasst, wobei es sich bei letzteren um Halbnomaden handelte. Daneben taucht noch Dikoia auf, das hieß svw. “Niemandsland” (vgl. Hildermeier, S. 35) , wörtlich Dikoe Pole “wilde Ebene”. Im 17. Jh. wurde Ukraine dann zur Bezeichnung dieser bestimmten Region, allerdings territorial nicht weiter konturiert. Historisch konkretisierte sich dies im Laufe der nächsten Jahrhunderte, eine administrative Region Ukraine gab es jedoch erst mit der Russischen Revolution.

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Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine. München (Beck) 4. Aufl. 2014, Kap. 1: Ukraine und Ukrainer. Geographische und ethnischer Gegebenheiten.
Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. München (Beck) 2013.

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3. Die Frage der Geschichte

a) Ursprünge im Mittelalter

Die Geschichte Russlands und der Ukraine führt auf gemeinsame Wurzeln zurück,. die beide Länder, bzw. Historiker und Politiker, heute konträr als den Ursprung der  jeweils eigenen Geschichte verstehen.. Der Historikerstreit darüber ist natürlich Ausdruck des politischen Verständnisses im Rückblick.

Am Anfang waren die Waräger, wie der östliche Zweig der Wikinger oder Normannen genannt wird, die als Händler von der Ostsee aus den kontinentalen Raum über die Flussverbindungen nach Süden zum Schwarzen Meer und zum Byzantinischen Reich durchquerten, eine feste Handelsroute und von da aus auch eine politische Herrschaft etablierten, zunächst in Nowgorod und dann in Kiew, das sie 882 eroberten und zu ihrer Hauptstadt machten.

Kiew war der Nestrorchronik aus dem 12. Jh. zufolge Anfang des 6. Jh.s von den slawischen Poljanen gegründet worden, es gibt jedoch auch andere Erklärungen (vgl. Wikipedia). Das Herrschaftsgebiet wurde dann als Rus (weibliches Genus) bezeichnet. Der Name selbst ist wohl nordischen Ursprungs.

Das Nationaldemkmal Tausend Jahre Russland, das 1862 vor der Sophienkathedrale im Kreml (Burg in der Altstadt) von Nowgorod  errichtet wurde, verkörpert die russisch-moskovitische Vereinnahmung des alten Reiches der Rus. Die monumentale Skultur zeigt die wichtigsten Persönlichkeiten in 17 größeren Figuren und 109 Reliefs.

Nationaldenkmal Tausend Jahre Russland vor der Sophienkatherdrale in Nowgorod, 1862.
>Wikipedia

Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer - Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München (Beck) 2017, Kap. 2: “Der Erbstreit der Historiker” S. 27ff., “Der Erbstrteit der Politiker”, S. 33ff. 
Wikipedia: >Waräger / >Kiew / >Kiewer Rus / >Rus

Wikipedia >Petscchenegen / >Kiptschak / >Mongolensturm / >Goldene Horde / >Wikiwand; Ukrainer

Der normannische Charakter der Führungsschicht der Rus ging im Laufe der Zeit verloren und dieses erste slawische Reich im Osten, die Kiewer Rus, dehnte sich  aus und verfestigte sich territorial, teilte sich aber auch föderal in mehrere Teilfürstentümer von Nowgorod bis zum Schwarzmeergebiet. Diese südliche Region wurde jedoch im 11. Jh. von aus dem Osten einfallenden Turkvölkern, Petschegen und Kiptschak, erobert und dies unterbrach auf lange Zeit die territoriale Verbindung des slawischen Reiches zum Schwarzen Meer. Dies wird heute auf verschiedenen rekonstruierten Karten unterschiedlich abgebildet, keine von ihnen darf Exaktheit beanspruchen.

Im 13. Jh. eroberten die Mongolen - oft auch als Tartaren bezeichnet, aber mit diesen nicht identisch -  Osteuropa (“Mongolensturm” 1237-142) und beendeten damit die politische Selbstständigkeit des Kiewer Reiches. Der westliche Teil des Mongolenreiches wurde dann unter der Goldenen Horde selbstständig und herrschte dort bis Ende des 14. Jh.s.

 

 

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Das Kiewer Rus bei der Ankunft der Goldenen Horde 1220-1240, >Wikipedia


b) Frühe Neuzeit

Der Niedergang der Goldenen Horde entsprach dem Aufstieg des Großfürstentums Moskau, desssen Strategie der “Sammlung der russischen Erde” nicht nur die Befreiung von der Tartarenherrschaft bedeutete, sondern auch die Unterwerfung konkurrierender slawischer Fürstentümer und den Kampf gegen das damals mächtige Reich Litauen, das sich im 14. Jh.  weit nach Osten ausdehnte und im Süden zeitweilig sogar an die Schwarzmeerküste vorstieß. 1386 übernahm der litauische Großfürst Jogaila durch Erbschaft, woraus das polnisch-litauische Reich in Personalunion entstand.  Diesen Reichsbildungen lag wohlgemerkt keinerlei ethnische Identität zugrunde, sie waren dynastischer Natur und umfassten mehrheitlioch Untertanen, die nicht Litauer oder Polen waren.

Der südliche Teil der Ostslawen in der ehemaligen Rus geriet damit jahrhundertelang unter katholische Herrschaft. Im Zeitalter der Konfessionalisierung im 16. Jh. und der Gegenreformation im 17. Jh., die in Osteuropa auch den Konflikt zwischen Katholizismus und Orthdoxie betraf, wurde dies zunehmen zu einem Problem.

Europa zur Zeit Kaiser Karls V., 1. Hälfte des 16. Jh., aus Senkpiehl’s Schul-Atlas für den Untericht in Geschichte, Leipzig (Dürr / Peter) 2. Aufl. 1904, S. 18. GEI digital 92.2431 / (urn:nbn:de:0220-gd-4966057)

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Das Großfürstentum Moskau übernahm nach dem Untergang des Byzantinischen Reiches den Anspruch auf dessen religiöses Erbe, das auch einen damit verbundenen imperialen Anspruch beinhaltete, formell wurde die Erbschaft auch durch die Heirat Iwans III. mit der letzten byzantischen Prinzessin Zoe 1472 hergestellt. Iwan III. “übernahm den byzantinischen Titel Autokrator, also ‘Selbstherrscher’, und bezog ihn auf ‘ganz Russland’. Nach dem Vorbild des Kaisers des ‘Heiligen Römischen Reiches’ führte er den Doppeladler als Staatswappen ein und ließ dem Kreml mit der Hilfe italienischer Baumeister ein imperiales Aussehen geben.” (Nolte, S. 61. Außerdem beanspruchte er vom Ausland, als Zar angesprochen zu werden, wie der deutsche Titel Kaiser ebenfalls vom Namen Caesars abgeleitet. Sein Enkel Iwan IV. übernahm den Zarentitel dann in seinen Krönungsakt.

Iwan IV. (1530/33-1584), nicht umsonst noch zu Lebzeiten “der Schreckliche” (eigtl. russ. grosny “der Strenge” oder “der Drohende”) genannt, verlor früh seine Eltern und wuchs unter dem Einfluss des Hochadels auf, der diese Gelegenheit nutzen wollte, die von Iwan III. begonnene Unterwerfung der in Russland relativ selbstständigen Bojaren wieder umzukehren. Iwan IV. rächte sich an ihnen sowie an Aufständischen aus dem Volk in brutaler Weise, aber auch an der besiegten Bevölkerung seiner eroberten Gebiete wie in Nowgorod, und entwickelte dabei einen in der Geschichte einzigartigen Sadismus, was ihm seinen Beinahmen einbrachte. Zur Sicherung seiner Herrschaft setzte er auf die Kirche, den Aufbau eines Dienstadels und eine eigene besoldete Truppe von Schützen, den Strelitzen, sowie eine spezielle Polizei, die Opritschniki, die sich in schwarze Kutten mit den Symbolen Hundskopf und Besen kleideten, eine Art Prätorianergarde, in denen man, wenn auch anachronsitisch, gleichsam die Vorstufe einer Mischung aus SS und KGB sehen kann, da sie als eine besondere Mördertruppe agierten.

Iwans Expansionspläne nach Westen, gegen Livland, scheiterten, während er erfolgreich nach Osten expandieren konnte und Kasan und Astrachan eroberte. Es war der Beginn der Eroberung, die danach  über den Ural nach Sibirien ausgriff. Die Entwicklung seiner Persönlichkeit in den letzten beiden Jahrzehnten gab Anlass, an seiner geistigen Gesundheit zu zweifeln, in seinem aber vielleicht nicht unberechtigten Verfolgungswahn sah er überall Feinde und potenzielle Attentäter, was nur seine Terrorherrschaft verschlimmerte. So wütete der Zar auch innerhalb seiner Familie und soll nach dem Bericht des päpstlichen Legaten seinen Sohn und Thronfolger Iwan erschlagen haben. Auf ihn folgte daher als schwachsinnig geltender, vielleicht auch nur “einfältiger” oder “von kindlichem Gemüt” gebliebener (Hildermeier, S. 274) Sohn Fjodor. Schon testamentarisch hatte sein Vater für ihn eine Vormundschaft verfügt, die der geadelte Boris Godunow anderthalb Jahrzehnte lang ausübte, Nach dem Tode Fjodors 1598 ließ er sich selbst zum Zar krönen und begann gleichfalls, alle möglichen Widersacher auf brutale Weise aus dem Weg zu räumen. Dennoch konnte er einen groß angelegten Aufstand gegen ihn nicht verhindern, der sich noch nach seinem Tode 1605 zu einem “Aufstand der Peripherie” (Hildermeier, S. 282ff.). Die offiziell “Zeit der Wirren” genannte Epoche waren “Russlands erster Bürgerkrieg” (Aust, Schatten, S. 131) und ging 1617 mit der Wahl Mihail Romanovs zu Ende, der über seine Großmutter, Frau Iwans des Schrecklichen, dessen Enkel war, aber eine neue Dynastie, die der Romanovs begründete, die bis zum Ende 1917 regierte. Mihails Enkel Peter der Große stellte die autokratische Herrschaft, wenn auch ohne die Exzesse früherer Zeiten, wieder her.

Iwan der Schreckliche musste für viele sozio- und ethnopsychologischen Erklärungen der Determinanten russischer Geschichte, Politik oder des “russischen Wesens” herhalten. Er erscheint als die radikalste Inkarnation des “asiatischen Despoten” und nicht umsonst kann man in seiner Terrorherrschaft und seinem Verfolgungswahn Züge des späteren Stalin erkennen. Gleichwohl zeigt jene Epoche auch den Widerstandswillen gegen solche Despotie von einem Teil der Bojaren bis zum Volk sowie, dass der Widerstand nicht nur einem Despoten, sondern der Despotie als solcher galt, und nicht von ungefähr Aufstandsversuche im Land auch gegen die zentralistische Moskowiter Herrschaft motivierte. Es zeigt sich aber auch, warum diese Widerstände scheiterten, weil die Widerständler alles andere als einig waren und Rivalitäten wie auch echte Interessensgegensätze den Widerstand schwächten. Mihail Romanov wurde von einer Art Generalständeversammlung gewählt, zu der “alle ‘Ränge’ freier Untertanen - Adel, ‘Bojarenkinder’, Strelitzen und andere Soldaten, Stadtbewohner, Geistliche, Kron- und Staatsbauern sowie Kosaken” Delegierte wählen sollten (Hildermeier, S. 293).  Auch wenn eben nur die “Freien” dazu berechtigt wurden, die Masse der Leibeigenen blieb natürlich außen vor, und deren Erfassung und tatsächliche Berechtigung sicher nicht der bürokratischen Genauigkeit der Wahl der französischen Generalstände 1789 entsprach, so war dies für die Zeit, die in Westeuropa den Niedergang der ständischen Mitsprache (in Frankreich letztmalig 1614) und beginnenden Absolutismus kennzeichnete, doch ein einzigartiger “demokratischer” Vorgang. 277 Delegierte wählten schlißlich einen Kandidaten für den Thron, der die3s selbst eigentlich gar nicht wollte und wie der Geeignete für eine schwache Zarenherrschaft schien.

Bezeichnend ist die Rehabilitierung Iwans des Schrecklichen, die seit 2014 im Zuge eines neuen nationalistischen Rückblicks auf die Geschichte einen enormen Aufschwung erlebt.  In einem solchen Rückblick auf die russische Geschichte in einer großen Ausstellung unter kirchlicher Ägide Anfang 2015 wurden die Schreckenstaten Iwans des Schrecklichen als Verleumdung durch “die ersten Informationskriege der europäischen Presse” erklärt. Etwas später heißt es dann: “Er war schon schrecklich, aber er hat unseren Staat gerettet.” (Die Zeit, 8.1.2025).

Trotz der Wirren blieb das Moskauer Zarentum ein Bezugspunkt für orthodoxe Russen und Ukrainer - die sich noch nicht als solche definierten, denn es war das einzige unabhängige orthodoxe Reich, so dass 1592 die orthodoxe Bruderschaft von (russ.) Lvov, (ukr.) Lviv, (dt.) Lemberg in Galizien, also ganz im Westen, gegenüber dem Moskauer Zaren “an die religiöse Einheit und die gemeinsame ‘russische’ Abstammung appellierte.” (Kappeler, Ungleiche Brüder, S. 54f.). Noch ging es um finanzielle Unterstützung, doch 1624/25 bat der Kiewer Metropolit den Zaren Mihail bereits in seinem und im Namen der Zaporožer Kosaken demütigst darum, sie ‘unter seine herrscherliche Hand zu nehmen.’”

Die Moskauer Orthodoxie sah sie jedoch im Gegenteil als Fremde, schon Katholisierte an, und verlangte von Orthodoxen, die aus Litauen nach Moskau kamen, sich erneut taufen zu lassen. Dies hatte damit zu tun, dass sich 1596 unter dem Druck der katholischen Kirche in Polen-Litauen die Union der Orthodoxen mit der katholischen Kirche vollzogen wurde, der die Orthodoxen in der Unierten Kirche in einigen Aspekten dem katholischen Ritus anpasste und sie in jedem Fall der katholischen Hoheit unterstellte.

Dennoch kam es in den folgenden Jahren zu einer kulturellen Annäherung hinsichtlich der kirchenslawischen Liturgie und anderer Fragen von Sprache und Übersetzung, bei denen Gelehrte aus Kiew nach Moskau kamen, parallel zur politischen Verbindung in Folge des Aufstandes der Zaporožer (Saporoger) Kosaken 1648 in der südlichen Ukraine gegen die polnisch-litauische Herrschaft. Der Aufstand wurde nach Zögern von Moskau unterstützt und so kam es 1654 zu einer später aus russischer Sicht so genannten “Wiedervereinigung”, in der die Kosaken dem Moskauer Zaren Aleksej den Treueschwur leisteten, sich zum Kriegsdienst für Moskau verpflichteten, aber ansonsten weitgehend ihre Unabhängigkeit bewahrten (cf. Kappeler, Ungleiche Brüder, S. 57). Das Bündnis war jedoch erst sehr brüchig und nach dem langen russisch-polnischen Krieg wurde die südliche Ukraine 1686 geteilt, der Osten fiel an Moskau, der Westen blieb polnisch. Die obige Karte drückt das aus. Im Osten war 1651 die Festung (russ.) Charkov, (ukr.) Charkiv errichtet, die sich zur großen ukrainischen Metropole im Osten entwickeln sollte.

In jener Zeit gewinn auch der territoriale Begriff Ukraine langsam seine Bedeutung, wenn auch noch nicht im Sinne eine genau abgegrenzten Region. War es früher, seit ersten Erwähnungen im 12. und 13. Jh., nur die “Grenze”, so wird die Region am mittleren Dnjepr im 16. Jh. einerseits von Polen, also von außen, andererseits von Ukrainern (avant la lettre, wie man im Französischen sagt, also noch vor der Etablierung des Ethnonyms), also von innen, “häufiger als Ukraine bezeichnet. Im Laufe des 17. Jahrhunderts wird der Begriff Ukraine mit dem Hetmanat der Dnjepr-Kosaken verbunden und gelegentlich auf Volk und Sprache ausgedehnt.” (Kappeler, Kleine Geschichte..., S. 21).

In der Beschreibung der Ukraine, der Krim, und deren Einwohner des französischen Militäringenieurs und Kartographen  Beauplan, der 1630-47 in polnischen Diensten stand und 1634 an der Festlegung der Grenzen zwischen Russland und Polen-Litauen teilnahm, wird die Ukraine territorial genauer identifiziert, wie es auch dem Titel schon zu entnehmen ist (vgl. Kappeler, Kleine Geschichte..., S. 21), allerdings noch als polnische Provinz, wie der genauere französische Titel auch lautet: Description d’Urkanie, qui sont plusieurs Provinces du Royaume de Pologne. Das Werk erschien erstmals 1640 und in einer zweiten Auflage 1660, wie es im Vorwort der deutschen Ausgabe heißt. Tatsächlich ist die Editionsgeschichte komplizierter, weil sich die die ersten Ausgaben im Titel unterschieden und jeweils ergänzt wurden, was uns hier aber nicht weiter interessiert (cf. Essar/Pernal). Wichtig ist jedoch, dass die daraufhin ungewöhnlich zahlreichen Neuauflagen und Übersetzungen das Werk und damit auch den Namen der Ukraine in ganz Europa bekannt machten. Die deutsche Übersetzung erschien erst viel später, 1780, als die Ukraine bis zur Schwarzmeerküste bereits russisch war, von daher wäre deren Benennung als polnische Provinz anachronistisch gewesen, was die Änderung im Titel erklärt.

Süden

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Aus der widersprüchlichen Identifizierung der Ukraine mit den “wüsten” oder “leeren Feldern” zeigt sich, dass die Begrifflichkeit noch nicht ganz klar war. Widersprüchlich ist es insofern, als Beauplan in seinem Buch die Ukraine und Ikrainer ja als bewohntes Land beschreibt, mit den Sitten der Einwohner usw., und Kiew ins Zentrum der Ukraine stellt: Dsa erste Kapitel heißt dort “Beschreibung der Ukraine und des Diepersvon Kyow bis ans Schwarze Meer”. Kyow = (russ.) Kiev oder ( ukr.) Kyiw  ist auf der vollständigen Karte im unteren Teil als Name der Region um Kiew sichtbar.


c) Seit dem 18. Jahrhundert

Durch den Modernisierungsschub Peters des Großen (reg. 1682-1725) mit seiner politisch-kulturellen Westorientierung, verkörpert in der neuen Hauptstadt Sankt Petersburg, nach der Eroberung des Baltikums von Schweden im Nordischen Krieg 1721, machten sich ein russisches Identitätsproblem und ein ukrainischer Partikularismus bemerkbar. Nicht nur, dass Peter d. Gr. seiner Hauptstadt einen deutschen Namen gab, er gab sich nun auch einen westlichen Kaisertitel, Imperator, nicht mehr nur Zar und Großfürst. Nach ihm gewannen auch immer mehr deutsche Adlige Einfluss am Hof, bzw. wurden in den russischen Adel aufgenommen. Der russische Charakter des Reiches schien für konservative russische Adlige in Frage zu stehen. Gleichzeitig und damit verbunden bestärkten sich vor allem die ukrainischen Kosaken in ihrer bisher noch gewahrten relativen Unabhängigkeit.

Unter Katharina d. Gr. ( reg. 1762-1796) “legten die ukrainischen Kosaken 1763 eine Petition vor, in der sie um die Einrichtung eines ukrainischen Reichstags baten.” (Aust). Dies blieb eine Illusion, im Gegenteil setzte nun eine langsame und später dann immer deutlichere Stärkung des russischen Elements im Reich ein. Auch führte die weitere Expansion Russlands nach Süden zu einer stärkeren politischen Integration: 1783 wurde als letzte Region der Ukraine - die es damals als territorial definierte Region allerdings nicht gab - die Krim dem Osmanischen Reich entrissen und unter dem antiken griechischen Namen Taurien dem Russischen Reich integriert. Es wurde  auch als “Neu-Russland” apostrophiert, ein deutliches Zeichen der Unterwerfung, verbunden mit der Ansiedlung von Russen in dieser dünn und nur turko-tatarisch besiedelten Steppenregion. Tatsächlich Die Steppe war die Grenze - ursprünglicher Begriff der Okraina - zwischen zwei Welten gewesen .und “bis ims 18. Jahrhundert machte die ostslawische Siedlung an der Steppengrenze halt.” So muss man sich historisch klar machen: “Die Ukraine war lange ein kontinentales Land, erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hat sie direkten Zugang zum Meer.”  (Kappeler, Kleine Geschichte..., S. 17, 20). 

Zur gleichen Zeit wurde in Kooperation mit Österreich und Preußen das polnisch-litauische Königreich in drei Etappen bis 1795 durch die “polnischen Teilungen” liquidiert.

Hans-Heinrich Nolte: Geschichte Russlands. Stuttgart (Reclam) 3. Aufl. 2012.

Vgl. Hildermeier, Geschichte Russland, Kap. XV.

Wikipedia: >Iwan IV.; >Strelitzen; >Opritschnina

Julia Fatianova: Oprithnina - Orden des Schrecksns oder Vorstufe eines russischen Polizeiwesens? in: Jonas Grutzpalk u.a. (Hrsg.): Beiträge zu einer vergleichenden Soziologie der Polizei. Potsdam (Universitätsverlag) 2009, S. 70-89.

 

 

 

 

 

 

 

Martin Aust: Die Schatten des Imperiums. Russland seit 1991. München (Beck) 2019.

Michael Thumann: Iwan, der halb so Schreckliche, in: >Zeit Online, 8.1.2015

 

 

 

 

 

Wikipedia: >Union von Brest / >Ukrainische griechisch-katholische Kirche

 

Saporoger Kosaken >Wikipedia

 

 

 

 

 

 

 

 

Litauen >Wikipedia

 

 

 

 

 

 

 

 

Hetman: Titel eines Kosakenführers, ursprünglich militärisch, dann auch politisch; Hetmanat:  politische Struktur des Kosakenverbandes

Beauplan >Wikipedia

Dennis F. Essar / Andrew B. Pernal: The First Edition (1651) of Beauplan’s Description d’ukranie, in: Harvard Ukrainian Studies, Vol. 14, No. 1/2, June 1990, S. 84-96.

Dt. Ausg.: Wilhlelm Le Vasseur, Sieur de Beauplan: Beschreibung der Ukraine, der Krim, und deren Einwohner. Aus dem Französischen übersetzt und nebst einem Anhange, der die Ukraine, und die Budziakische Tatarey betrifft, und aus dem Tagebuche eines deutschen Prinzen, und eines schwedischen Kavaliers, gezogen worden, herausgegeben von Johann Wilhelm Moeller. Breslau (W. G. Korn), 1780. - Die digitalisierte Ausgabe (>Digitale Sammlungen) enthält keine Karten.

Karte aus dem Werk von Beauplan, >Wikimedia Commons. “Représentation des plaines désertes”, lat. auf der Karte “Delineatio Generalis Camproum Desertorum vulge Ukraina cum adjacentibus Provinciis” (Allgemeiner Umriss der leeren Felder, geminhin Ukraine, mit den benachbarten Provinzen”)

Die Karte ist gesüdet, d.h. der Norden liegt unten, oben sieht man den Beginn der Krim und die Küste des Schwsarzen Meeres.

Ausschnitt aus der oberen Karte. Man erkennt hierauf die Eintragungen Loca Deserta (“wilder” oder “leerer Ort”, auch “Heide” im Sinne eines baumlosen Fläche) für das Steppengebiet der südlichen Ukraine sowie darunter Dzike Polie, was dem Dikoia der obigen Karte von 1681 entspricht (sieh dortige Erklärung zu dikoe pole). Vgl. auch >Wikipedia

Zur Vergrößerung auf die Karte klicken.

Martin Aust: Russland und Europa in der Epoche des Zarenreiches (1547-1917) (2015), >EGO

Unten: A fine 1799 map of the Russian Empire by the English mapmaker Clement Cruttwell. Atlas to Cruttwell's Gazetteer, 1799. >Geographicus / >Wikimedia Commons

Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine. München (Beck) 4. Aufl. 2914

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Die Karte von 1799 zeigt die eroberte Südukraine, deren Namen nicht mehr auftaucht, stattdessen die Verwaltungsbezirke sowie Hinweise auf die Kosaken. Ganz im Süden, vom Kartenrand abgeschnitten, erkennt man den neuen Namen für die Krim, hier Taurida genannt.

Nicht berücksichtigt ist die Aufteilung Polens, die zu diesem Zeitpunkt bereits erfolgt war, die Westgrenze der Karte spiegelt eine Status quo von vor 1772 wider.

Dei russische Expansionspolitik ujnter Katharina d. Gr. (gest. 1796) wurde explizit mit dem Anspruch auf die alte Kiewer Rus begründet und als “Wiedervereinigung” der Ukraine und Weißrusslands mit dem moskovitischen Russland. Die Annexionen gingen jedoch über das ukrainisch sprechende Siedlungsgebiet hinaus und brachte polnische Bevölkerungsteile, vor allem in gemischten Gebieten, unter russische Herrschaft. Die Unierte Kirche, der die meisten im ehemaligen Polen-Litauen lebenden Ukrainer angehörten, wurde bekämpft und die Bistümer nach und nach aufgelöst. Dei “heimgeführten” Ukrainer wurden als Russen betrachtet.

Diese südliche Ukraine war den Russen jedoch weitgehend unbekannt, war sie doch jahrhundertelang zwischen der polnisch-katholischen Herrschaft und der muslimischen Khanat der Krimtataren, das dem Osmanischen Reich unterstand, aufgeteilt und fremd geblieben. Die Entdeckung des neuen Gebietes, das man  “Klein-Russland” nannte und das in einem gleichnamigen Generalgouvernement mit Sitz in Kiew zusammengefasst wurde (auf der Karte von 1799 nicht berücksichtigt) durch russische Reisende um 1800 spricht Bände:

“In einem netten Bauernhäuschen finde ich andere Gesichter, andere Frauenkleider und höre eine andere Sprache. Ist das wirklich ein Grenzland des Imperiums? Oder betrete ich einen anderen Staat?” fragt sich Sumarokov um sich dann zu vergewissern: “Nein! Das Imperium setzt sich fort, aber es beginnt ein Land, das Kleinrussland heißt.” (Kappeler, Ungleiche Brüder, S. 79).

Ein anderer Reisender, Ivan Dolgurokov, war konsterniert: “Hier war ich schon in einem fremden Land, wegen des einfachsten, für mich aber ausreichenden Grundes: Ich verstand die Volkssprache nicht länger.” Und zog die Schlussfolgerung: “Wo die Sprache des Volkes aufhört, uns verständlich zu sein, da sind die Grenzen unserer Heimat.” (Kappeler, Ungleiche Brüder, ebd.). Gemeint war aber sehr wohl die dort gesprochene slawische Sprache, nicht etwa Tatarisch, Türkisch usw.

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Oben: Ausschnitt aus der oberen Karte. / Unten: Russische Karte des Kaiserreichs Russland im 19. Jh., aus französischem Besitz ohne weitere Angaben, >Gallica / >Wikimedia Commons + Ausschnitte

Pavel Sumarokov zitiert bei Kappeler, Ungleiche Brüder,  S. 79. Cf. Paul Sumarokoff’s Reise durch die Krimm und essarabien im Jahre 1799. Dt. Ausg. Leipzig (Hartknoch) 1802.

Ivan Dolgurokov zitiert bei Kappeler aus  Mirsolav Shkandij: Russia and Ukraine. Literature and the Discourse of Empire from Napoleonic to Postcolonial Times. Montreal & Kingston u.a.o. (McGill-Queen’s Univ. Press) 2001, S. 73.

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Die Fremdheitserfahrung implizierte nichts Negatives, vielmehr romantisierte man die slawische Bevölkerung in dem multikulturellen Gemisch von Tataren, Armeniern und Griechen zu einfachen, naturverbundenen Menschen und Bauern und ein Relikt der Ur-Russen in “Kleinrussland” (cf. Kappeler, S.. 79f.).

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Auf der Krim steht ihr richtiger Name: п. о́. (für полуо́стров = Halbinsel) Крым.
Darüber diagonal das Taurische Таврическая [Gouvernement]
Siehe auch Gouvernement Taurien
>Wikipedia

Mit der territorialen Ausdehnung Russlands nach Westen um 1800 kamen alle Teile der bis dahin über Jahrhunderte unter verschiedene Herrschaften aufgeteilten Ukrainer, die noch keine kollektive ethnische Identität unter dieser Bezeichnung hatten, erstmals wieder in einem Staat zusammen. Die identitäre Abgrenzung zu Polen und Hinwendung zu den Russen seit dem 17. Jh. basierte im Wesentlichen auf der religiös-kulturellen Tradition und einer eher vagen Vorstellung eines gemeinsamen Erbes der Rus, das religiös-kulturell bestimmt war, nicht im modernen Sinne national. Politisch waren die Saporoger Kosaken  im 18. Jh. innerhalb Russlands eher auf Abgrenzung bedacht, wie erwähnt, und als  führende politisch-militärische Schicht verkörperten sie zunehmend ein entstehendes Bewusstein von Ukrainern, die sich jedoch auch selbst als Kleinrussen bezeichneten, stieß aber auf einen inneren russischen Nationalismus, an dem  der “Vaterländische Krieg” gegen Napoleon einen großen Anteil hatte.

Dennoch forschten ukrainische Intellektuelle nach ihrer eigenen, nun immer mehr als national begriffenen Geschichte, verbunden mit den Kosaken, standardisierten die ukrrainische Sprache und verwendeten sie in der Literatur. Ab Mitte des 19. Jh.s wurden jedoch die “Ukrainophilen” vom Staat verfolgt: “’Dort bemühen sich junge Menschen um die Wiederherstellung der Sprache, der Literatur und der Bräuche Kleinrusslands bis hin zu Träumen von der Rückkehr der früheren Freiheit, des Kosakentums und des Hetmanats’”, meldete Graf Aleksej Orlov, der Chef der Geheimpolizei.” Die Ukrainophilen linker Prägung idealisierten auch ihrerseits, aber anders,  “die einfachen freiheitsliebenden Kosaken und Bauern, die von Polen und Russen unterdrückt wurden.” (Kappeler, Ungleiche Brüder, S. 93f.). Der russische Nationalismus setzte dann auf eine Russifizierungspolitik, die 1863, in Verbindung mit dem polnischen Aufstand in diesem Jahr, auch die ukrainische Sprache im öffentlichen Raum verbot, der Begriff Ukrainer, ukrainisch selbst wurde zensiert, was auch ex negativo belegt, dass er sich inzwischen zu einem Ethnonym oder Nationalbegriff entwickelt hatte (cf. Kappeler, Ungleiche Brüder, S. 106).

So war die Entstehung eines ukrainischen Nationalbewusstseins ein dialektischer Prozess in enger Verbindung mit dem russischen Nationalismus, der Slawophlie, auf der anderen und gegnerischen Seite. Wie so oft wurde die eigene Identität durch deren Infragestellung erst geschärft.

Die administrative Integration des Südens brachte aber auch migratorische Bewegungen in Gang, gefördert durch den Modernisierungsprozess im Zarenreich seit Ende des 19. Jh.s, was auch eine Akkulturation der ukrainischen Eliten mit sich brachte sowie der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen. Bildung hieß russische Bildung. Die Ukrainophilen waren eine intellektuelle Minderheit. Im 20. Jh. und v.a. in der sowjetischen Zeit verstärkte sich die demographische Russifizierung  in weiten Teile des Landes und vor allem auch in der Ukraine. Bereits 1897 waren 3 der 17 Millionen Russen (cf. Kappeler, Ungleiche Brüder, S. 112). In der östlichen Ukraine entstand im später so genannten. Donbas-Gebiet (Bassin am Don) eine Montan- und Schwerindustrie mit mehrheitlich russischer Bevölkerung. Dies lag und liegt dem aktuellen Konflikt in der Ukraine seit der Auflösung der Sowjetunion zugrunde.


d) Entstehung der Ukraine als staatliche Einheit in der Russischen Revolution

Die russischen Kommunisten setzten  auf alle Oppositionsbewegungen, die sich gegen den zaristischen Staat gerichtet hatten, und damit auch auf die partikularen Wünsche der Nationalitäten nach Selbstständigkeit.  Es gab auch gar keine andere Wahl, der an der Peripherie - wenn man denn auch die Ukraine zur Peripherie zählen will - nutzten die Nationalbewegungen die Chance der Februarrevolution um sich selbstständig zu machen. Am 17.3.1917 bereits  sammelten sich Vertreter verschiedener politischer und kultureller Organisationen in Kiew um eine provisorische Regierung zu bilden, gefolgt von einem Nationalkongress einige Wochen später, der die Zentralna Rada als Volksvertretungsorgan wählte). Da die bürgerlich-demokratische Übergangssregierung in Russland am russischen Zentralstaat festhalten wollte, wurde die ukrainische Nationalbewegung schnell zu ihrem “wichtigsten Kontrahenten” (Kappeler, Kleine Geschichte..., S. 168).  Damit stellte sich für das revolutionäre Russland nicht nur die Frage nach der neuen politischen Ordnung, sondern auch nach der staatlichen Struktur. Trotz der Differenzen stellte sich die ukrainische Regierung unter  dem Historiker Mychailo Hruschewskyj loyal zur Provisorischen Regierung in Sankt Petersburg und strebte eine “national-territoriale Autonomie der Ukraine im Rahmen Russlands” an (ebd.). Im Zuge des revolutionären Prozesses radikalisierte sich jedoch die Nationalbewegung auch nach links und die Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei erlangte die Führung.

Die ukrainische Sozialdemokratie hatte sich 1900 im Untergrund gegründet als Revolutionäre Ukrainische Partei und vertrat zunächst eine eher vages sozialistisches Programm, dafür aber ein um so deutlicheres nationales Programm mit der Forderung nach Unabhängigkeit. Die Auseinandersetzungen um die politische Richtung führte zu Abspaltungen rechts und links, die mittlere Linie verband ein sozialistisches Programm mit dem Ziel nationaler Autonomie innerhalb Russlands.

Die Rada unter sozialistischer Führung erklärte am 10.6.1917 die Autonomie der Ukraine und trat damit in den offenen Konflikt mit der Provisorischen Regerung, die sich gezwungen sah, die Rada als Vertretung des ukrainischen Volkes anzuerkennen. am 7. (20.) November rief die Rada eine Ukrainische Volksrepublik innerhalb Sowjetrusslands aus. Bei der darauffolgenden Wahl erhielten die Bolschewiki jedoch nur 25% der Stimmen - ähnlich wie bei der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung in Gesamtrussland -, es dominierten die ukrainischen Sozialisten und die bäuerlich orientierten Sozialrevolutionäre, Narodniki (“Volkstümler”) genannt. Die Bolschewiki unternahmen nun einen Aufstand in den Städten und eroberten mit paramilitärischen Truppen den ukrainischen Osten um Charkiw. Ein bolschewistische gesteuerter Kongress der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte etablierte sich als Gegenmacht zur Rada und proklamierte am 30.12.1917 die Ukrrainische Sowjetrepublik. Im Gegenzug erklärte die Rada 22.1. die volle staatlkiche Unabhängigkeit der Ukraine, doch im bereits ausbrechenden Bürgerkrieg eroberten die bolschewistischen Truppen, die aus Russen und Ukrainern bestanden, im Februar 1918 Kiew. 

Dies alles fand noch während des Krieges statt und paarallel dazu eroberten deutsche und österreichische Truppen die westliche Ukraine.  Die Besatzungstruppen arrangierten sich mit der entmachteten Rada und setzte sie unter ihrer Besatzungsherrschaft wieder ein. Hier zeigte sich schon kurzfristig das unauflösbare Dilemma, das sich ähnlich im 2. Weltkrieg wiederholen solle, allerdings unter noch extremeren Bedingungen. Nach dem Ende der Besatzungsphase brach der Konflikt zwischen Ukrainern und Russen erneut aus, als die revolutionär-anarchistische und bäuerlich orientierte Bewegung unter Nestor Machno im Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki kämpfte (bis 1922). Im Bürgerkrieg gab es somit mehrere und politisch ganz verschiedene Fronten. Auch wie Weißen, also die Konterrevolutonäre, hatten anfangs in der Ukraine eine Verankerung und deren Unterstützung durch Briten und Franzosen erfolgte unter anderem über das Schwarze Meer.

Die Föderalisierung Russlands zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken war also kein “Geschenk” der kommunistischen Führung an die nicht-russischen Nationalitäten, sondern ein Zugeständnis, das man machen konnte, nachdem die politische Macht gesichert war. Zuständig für die Föderalisierung war der Kommissar für Nationalitätenfragen, der später die kommunistische Terrorherrschaft zu ihrem Höhepunkt führen sollte: Josef Stalin. Mit der Einteilung einer Struktur von Sowjetrepubliken, Autonomen Republiken eine Stufe tiefer und darunter noch Autonomen Gebieten wurde eine äußerst komplexe Struktur geschaffen, die den Vielvölkercharakter der Sowjetunion abbildete, aber den Völkern deswegen keine Selbstbestimmung ließ, weil überall die Kommunistische Partei der Sowjetunion regierte.

Die Ukraine bekam dadurch jedoch zum ersten Mal ein klar umgrenztes Territorium innerhalb der Sowjetunion, das nach deren Auflösung ihr Staatsgebiet darstellte. Die “Fehler” Lenins und Stalins, die Putin in seiner Rede aus seiner Sicht sicher zu Recht verurteilte, hatten aber ihre Langzeitwirkung: Nach dem Fall des kommunistischen Regimes war die Auflösung der Sowjetunion unvermeidlich, denn die Einzelrepubliken konnten nun nicht nur in die individuelle menschenrechtliche, sondern auch ihre kollektive nationale Freiheit einfordern, wie es in der Verfassung von 1924 mit dem Recht auf Austritt aus der Union stand (Ka. 2, Abs. 4 der Verfassung).


e) Der Zerfall der Sowjetunion und die ukrainische Unabhängigkeit

Wie man weiß, wollte Mihail Gorbatschow die Sowjetunion reformieren, nicht auflösen. Es wiederholte sich jedoch in gewisser Hinsicht das Szenario nach dem Sturz der Zarenherrschaft: Mit der Demokratisierung wurde auch die zentralistische Herrschaft Russlands über die anderen Teile der bisherigen Union in Frage gestellt und umso mehr, als ja die Konzeption der Sowjetunion einen administrativen Föderalismus erst geschaffen hatte, den es im zaristischen Russland nicht gab, auch wenn dieser sowjetische Föderalismus eben nur administrativ-exekutiv warf, kein Föderalismus der Mitbestimmung, da die Kommunistische Partei der Sowjetunion überall herrschte. Aber es gab nun eine territorial und administrativ definierte Ukraine ebenso wie andere Sowjetunion neben der Russischen Föderation, die in sich selbst ebenfalls wieder föderalistisch aufgebaut war und es formell auch heute noch ist. Versuche der Teilrepubliken innerhalb Russlands, sich loszulösen, wie in Tschetschenien, wurden gewaltsam niedergeschlagen, eine stärkere Autonomie wie in Tatarstan unter Putin wieder zurückgefahren (siehe auch umseitig >Analyse/Unabhänigkeit(en)). Ein Sonderfall bildeten die drei baltischen Republiken, die auf eine Unabhängigkeit zwischen den beiden Weltkriegen zurückblicken konnten. Durch den Hitler-Stalin-Pakt gerieten sie 1939/40 unter sowjetische Herrschaft.

Mit der Lockerung der zentralistischen Zügel gewannen die zentrifugalen Kräfte an Stärke. Da das ganze System, v.a. auch wirtschaftlich, aber zentralistisch aufgebaut war und und vernetzte Abhängigkeiten in allen Bereichen bestanden, wurden die wirtschatlichen und organisatorischen Unzulänglichkeiten, die letztlich Grund für die Perestroika Gorbatschows gewesen waren, nur noch verstärkt. Außerdem formierten sich nun politische Kräfte, die keinen reformierten Sozialismus mehr wollten, sondern gar keinen. Dies wollte Gorbatschow bremsen, seine Vorstellung war eine Demokratie innerhalb gewisser Systemgrenzen, aber der Prozess der demokratischen Verselbstständigung auf allen Ebenen war nicht mehr zu bremsen. “Eine Reform von oben, die als Ziel Demokratisierung hat, kommt notwendigerweise an den Punkt, an dem die Reformer sich überflüssig gemacht haben.” (Nolte, S. 380).

Wird fortgesetzt...

 

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Hetmanat: siehe oben

Überblick: Kulturelle Unterwerfung im Vielvölkerreich, in: >Spektrum 3.2.2000,.

Wikipedia:

>Geschichte der Ukraine>Hruschewskyj / >Zentralna Rada /

 

 

 

 

>Revolutionäre Ukrainische Partei

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

>Machnowtschina

>Russischer Bürgerkrieg

 

 

 

 

 

Putins Ukraine-Rede im Wortlaut auf >Spiegel Online.

Verfassung der UdSSR (Russisch-Deutsch) >arcjhive.org

 

 

 

 

 

 

 

 

Wikipedia: >Tschetschenien /
Tschetschenienkriege >Erster,  / >Zweiter / >Tatarstan