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Moench

”Vergangenheitsbewältigung”

Dokumente zur Schulddebatte nach 1945 in Westdeutschland

A. Kollektivschuld und Kollektiventschuldigung
       1. (Selbst-)Kritik
       2. Relativierung

Wird ergänzt...

Es handelt sich hier um Materialien in Ergänzung meines Beitrages in der Hessischen Lehrerzeitung anlässlich des 70. Jahrestages des Kriegsendes 1945:
Wolfgang Geiger: “Ent-Schuldigung. Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan”, in: HLZ 3/2015, S. 10-11.

 

A. Kollektivschuld und Kollektiventschuldigung

Die Debatte über den Nationalsozialismus, seine Verbrechen und die Verantwortung dafür wurde in den westdeutschen Zeitschriften und Buchpublikationen, die zunächst unter  alliierter Herausgeberschaft und ab Herbst 1945 selbstständig mit alliierter Lizenz erscheinen konnten, vor dem Hintergrund der Kollektivschuldthese geführt, vor die man unmittelbar nach Kriegsende durch die Alliierten und/oder durch eigene Gewissensfragen gestellt wurde. Die Antwort darauf fiel extrem unterschiedlich aus, so wie auch die Definition von Kollektivschuld selbst unterschiedlich sein konnte. In einem ersten Durchgang präsentieren wir kritische Autoren, darunter nicht zufällig Beobachter von außen, die man, da sie in Deutschland publiziert wurden von Herausgebern und Verlegern, die sich damit identifizierten oder dieser Sicht der Dinge zumindest Gehör verschaffen wollten, mit inländischen Autoren zusammen unter der Kategorie (Selbst-)Kritik sammeln kann. Ihnen gemeinsam ist, dass sie die Frage nach Schuld bzw. Verantwortung für das Geschehene nicht auf einen kleinen Kreis politischer Entscheidungsträger eingrenzen und die Frage nach einer breiten gesellschaftlichen Verantwortung stellen. Dabei stellt sich dann noch einmal die besondere Frage, ob kollektives Verdrängen ein unbewusstes kollektives Schuldeingeständnis ist.

 

1. (Selbst-)Kritik

Hannah Arendt: Organisierte Schuld, 1945

Hannah Arendt:
eigtl. Johanna A., * Linden (Hannover) 14.10.1906 in , † New York 4.12.1975.
Ab 1924 Studium der Philosophie in Marburg bei Heidegger, in Freiburg bei Husserl und in Heidelberg bei Japsers, wo sie 1928 promovierte (Der Liebes- begriff bei Augustin). A. war nicht religiös, verstand sich aber als Jüdin und wurde vom Zionismus intellektuell beeinflusst. 1929 Heirat mit Günther Stern (nannte sich später Günther Anders). In Berlin wachsendes Interesse an politischen Themen in Verbindung mit der jüdischen Geschichte und setzte sich für ein aktives Engagement gegen den Nationalsozialismus ein. 1933 Flucht nach Paris, Scheidung und zweite Ehe mit Heinrich Blücher, einem antistali- nistischen Kommunisten. 1941 Emigra- tion nach New York, setzte sich für jüdische Flüchtlinge ein, arbeitete für jüdische Organisationen und als Lekto- rin im Schocken-Verlag. Im Auftrrag der Jewish Cultural Reconstruction Corpo- ration kehrte sie 1949/50 nach Deutsch- land zurück um jüdisches Kulturgut (Bücher) zu retten. Ab 1953 lehrte sie als Profes- sorin an verschiedenen Hoch- schulen und publizierte vielbeachtete und diskutierte Werke über politische Geschichte und Philosophie. Sie pägte den Begriff des Totalitarismus im Vergleich von Faschismus/NDS und Stalinismus und analysierte die Banalität des Bösen in der Person Eichmanns anlässlich des Prozesses in Jerusalem 1961.
Wikipedia; HannahArendt.net

In ihrer ersten Analyse der Schuldfrage hinsichtlich der Massenverbrechen des Nationalsozialismus konnte Hannah Arendt bereits im November 1944 auf den Bericht eines nicht weiter genannten amerikanischen Korrespondenten zurückgreifen, der Interviews in der damals schon von den Amerikanern besetzten Zone im Rheinland geführt hatte (es könnte sich theoretisch um Daniel Lerner handeln, der dies zur gleichen Zeit auch unternahm). Ihre Schlussfolgerung verweist bereits in erstaunlicher Weise auf das Dilemma, das sie erst viel später beim Eichmann-Prozess in Jerusalem genauer und ausführlicher analysieren sollte in Eichmann in Jerusalem,. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 1963. (Zur Kontroverse darum siehe u.a., Wikipedia).

Wo alle schuldig sind, kann im Grunde niemand mehr urteilen. Denn dieser Schuld gerade ist auch der bloße Schein, die bloße Heuchelei der Verantwortung genommen. Solange die Strafe das Recht des Verbrechers ist - und auf diesem Satz beruht seit mehr als zweitausend Jahren das Gerechtigkeits- und das Rechtsempfinden der abendländischen Menschheit - gehört zur Schuld ein Bewußtsein, schuldig zu sein, gehört zum Strafen eine Überzeugung von der Verantwortungs- fähigkeit des Menschen.  [...]

Hannah Arendt, »Organisierte Schuld«, Auszug aus einer Analyse, die im November 1944 geschrieben und zuerst im Januar 1945 in den USA veröffentlicht wurde. Im April 1946 erschien sie auch in der Zeitschrift Die Wandlung, S. 333-344. Der Auszug entstammt S. 337.

Im Winter 1949/50 kehrte sie nach Deutschland zurück in offizieller Mission der Jewish Cultural Restruction zur Rettung des jüdischen Kulturguts in Deutschland, konkret ging es um Bücher, deren Besitzer umgebracht worden waren und die nach Israel transferiert werden sollten. (Siehe dazu Natan Sznaider: Die Rettung der Bücher). Sie konstatiert dort zunächst den allgemeinen Gefühlsmangel angesichts der Katastrophe, die sich auch in den Verwüstungen der deutschen Städte durch den Krieg zeigt.

Dieser allgemeine Gefühlsmangel […] ist jedoch nur das auffälligste äußerliche Symptom einer tief verwurzelten, hartnäckigen und gelegentlich brutalen Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen und sich damit abzufinden.
Diese Gleichgültigkeit und die Irritation, die sich einstellt, wenn man dieses Verhalten kritisiert, kann an Personen mit unterschiedlicher Bildung überprüft werden. Das einfachste Experiment besteht darin, expressis verbis festzustellen, was der Gesprächspartner schon von Beginn der Unterhaltung an bemerkt hat, nämlich daß man Jude sei. Hierauf folgt in der Regel eine kurze Verlegenheitspause; und danach kommt - keine persönliche Frage, wie etwa: »Wohin gingen Sie, als Sie Deutschland verließen?«, kein Anzeichen von Mitleid, etwa dergestalt: »Was geschah mit Ihrer Familie?« - sondern es folgt eine Flut von Geschichten, wie die Deutschen gelitten hätten (was sicher stimmt, aber nicht hierher gehört); und wenn die Versuchsperson dieses kleinen Experiments zufällig gebildet und intelligent ist, dann geht sie dazu über, die Leiden der Deutschen gegen die Leiden der anderen aufzurechnen, womit sie stillschweigend zu verstehen gibt, daß die Leidensbilanz ausgeglichen sei […].

Hannah Arendt: Besuch in Deutschland. Hamburg (Rotbuch), 1993, S. 25. [The Aftermath of Nazi Rule. Report from Germany, in: Commentary 10 (1950), S. 342-353].

Lt. Daniel Lerner: Reise durch das besetzte Deutschland, 1945

Daniel Lerner:
* Brooklyn 30.10.1917, † Santa Cruz (Calif.), 1.5.1980.
Sohn eines jüdischen Emigranten aus dem zaristischen Russland. Lerner studiere in New York Soziologie und wurde im Krieg (vermutlich 1943) führender Nachrichtenoffizier der Abteilung für die deutsche Zivilbevöl- kerung der PWD (Psychological Warfare Division) im SHAEF (Supreme Head- quarters, Allied Expeditionary Forces). Nach Kriegsende wurde die Einheit zur Information Control Division des OMGUS (Office of Military Government for Germany, US-Zone of Occupation) umgewandelt, deren Chief of Intelligence Lerner wurde. 1946 schied er aus dem militärischen Dienst aus und promo- vierte an der New York University mit einer Doktorarbeit über “Sykewar” (Psychological warfare). Seine Arbeiten zu Propaganda und psychologischer Kriegsführung wurden Standardwerke. Er forschte und lehrte an der Stanford University, ab 1953 am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, in Paris u.a.o.
Wikipedia

Im Frühjahr 1945 unternahm Daniel Lerner, führender Nachrichtenoffizier der Abteilung für die deutsche Zivilbevölkerung des Psychological Warfare des Oberkommandos der US-Streitkräfte eine Reise durch das besetzte westliche Deutschland und interviewte dabei deutsche Zivilisten, oft Amtsträger wie Bürgermeister usw., über ihre Einstellung zu Nationalsozialismus.

Die Unschuldsbeteuerungen der Deutschen verlieren in den Gesprächen oft durch Worte, die ihnen herausrutschen, und durch Fehler, die ihnen unterlaufen, an Glaubwürdigkeit. Diese Ausrutscher sind manchmal nur ein Zeichen für einen unbewußten Wortgebrauch. Um ihrer Erzählung von den zahlreichen Bombenangriffen und Evakuierungen besonderes Gewicht zu verleihen, sprach beispielsweise eine Frau in Frankfurt von »Terrorangriffen«, Goebbels Sprachregelung für Luftangriffe der Alliierten. Auf die Frage, woher sie diesen Begriff habe, antwortete sie ganz naiv: »Aus der Zeitung.« Sie benutzte das Wort nur, da es geläufiger war als der neutrale Ausdruck »Luftangriffe«. Häufig jedoch sind die Nazibegriffe, die immer noch zum deutschen Wortschatz gehören, ein wichtiger Hinweis auf die tiefsitzende Beeinflussung durch die Nazizeit. [...]
Solche Äußerungen tauchen fast in jeder Befragung gebildeter Deutscher auf. Der jetzt in Mode gekommene Ausdruck »belogen und betrogen« ist nur eine fromme Lüge, durch die der Deutsche, der ihn gebraucht, unbedacht zugibt, daß er irgendwann einmal an die Nazis geglaubt hat und ihnen gefolgt ist. Sonst könnte er jetzt nicht behaupten, »belogen und betrogen« worden zu sein. [...]

Aus den »Notizen von einer Reise durch das besetzte Deutschland (Anfang April 1945)« in: Ulrich Borsdorf / Lutz Niethammer (Hg.): Zwischen Befreiung und Besatzung. Analysen des US-Gheimdienstes über Positionen und Strukturen deutscher Politik 1945, Wuppertal (Hammer) 1976, Weinheim (Beltz Athenäum) 1995, S. 27-40. Der Auszug entstammt S. 35f. 38f..

Franz Werfel: An das deutsche Volk, 1945

Franz Werfel:
* Prag 10.9.1890, † Beverly Hills 26.8.1945.
Werfel entstammte einer assimilierten deutsch- jüdischen Familie aus Böhmen, war 1912-15 Lektor beim Kurt-Wolff-Verlag in Leipzig und wurde selbst ein bekannter expressionistischer Schrift- steller. 1929 heiratete er Alma Mahler, die Witwe Gustav Mahlers, deren zweite Ehe mit Walter Gropius geschieden worden war. Nach dem Anschluss Öster- reichs 1938 emigrierte er mit seiner Frau nach Sanary-sur-Mer in Frankreich, wo sich eine intellektuelle Exilanten- kolonie bildete. 1940 flohen sie zusam- men mit Mitgliedern der Familie Mann zu Fuß die Pyrenäen und gelangten über Spanien und Portugal in die USA, wo Werfel 1941 die amerikanische Staats- bürgerschaft erhielt. Drei Monate nach der Veröffentlichung seines Aufrufs “An das deutsche Volk” starb er in Kalifor- nien an Herzinfarkt.
Wikipedia; whoswho; austriaforum

Deutsche Menschen! Wißt ihr, was durch eure Schuld und Mitschuld geschehen ist in den Jahren des Heils 1933 bis 1945, wißt ihr, daß es Deutsche waren, die Millionen und Millionen friedfertiger, harmloser, unschuldiger Europäer mit Methoden umgebracht haben, die den Teufel selbst schamrot machen würden, kennt ihr die Bratöfen und Gaskammern von Maidanek, den Jaucheberg verwesender Mordopfer in Buchenwald, Belsen und hundert anderen Höllenlagern [...] Das Verbrechertum des Nationalsozialismus und die unsagbare Verrohung des deutschen Wesens sind logische Folgen der frechen Teufelslehren, die vom „Recht des Stärkeren!“ schwärmen und behaupten, Recht sei einzig und allein das, was dem Volke, das heißt ein paar Bonzen und Gaunern, nützt [...].

Franz Werfel: »An das deutsche Volk«, in: Bayrische Landeszeitung. Nachrichtenblatt der alliierten 6. Heeresgruppe für die deutsche Zivilbevölkerung, 25.5.1945, zit. nach: Gerhard Hay / Hartmut Rambaldo / Joachim W. Storck: “Als der Krieg zu Ende war”. Literarisch-politische Publizistik 1945-1950. Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N., München/Stuttgart 1973, S. 24.

Karl Jaspers: [Freiheit und Verantwortung], 1945

Karl Jaspers:
*Oldenburg 23.2.1883, † Basel 26.2.1969
Studierte ab 1901 in Heidelberg und München Jura, ab 1903 in Berlin, Göt- tingen und Heidelberg  Medizin, wo er promovierte und 1908 an der Psychia- trischen Universitätsklinik arbeitete. Dort lernte der Gertrud Mayer kennen und heiratete sie 1910. Die Mayers ent- stammten einer orthodoxen jüdischen Familie. Dies führte 1937 dazu, dass Jaspers von der Universität verwiesen wurde.
Jaspers habilitierte sich 1913 in Psy- chologie und wurde 1916 Professor
am Philosophischen Seminar in Heidelberg. Dort entwickelte er seine existenzialisti-sche Philosophie. 1945 be- auftragten ihn die Amerikaner mit der Neugründung der Universität. Sein  Buch Die Schuld- frage (1946), aus Vor- lesungen an der Universität entstanden, war ein Meilen- stein in der Schuld- debatte, zu der er auch als Herausgeber der Zeitschrift Die Wandlung beitrug.
Wikipedia; Lemo

Wir haben fast alles verloren: Staat, Wirtschaft, die gesicherten Bedingungen unseres physischen Daseins, und schlimmer noch als das: die gültigen uns alle verbindenden Normen, die moralische Würde, das einigende Selbstbewußtsein als Volk. [...]
Eindeutig ist nur das äußere Geschehen: das wortlose Verschwinden der Gewalthaber, das Ende selbständiger deutscher Staatlichkeit, die Abhängigkeit unseres gesamten Tuns von dem Willen der Besatzungsmächte, die uns befreit haben vom nationalsozialistischen Joch. Unsere Initiative ist beschränkt auf den Spielraum, den sie uns gewähren. [...]
Da wir wieder frei miteinander reden können, ist die erste Aufgabe, wirklich miteinander zu reden. Das ist keineswegs leicht. Niemand von uns ist Führer, keiner ist Prophet, der gültig sagte, was ist und was zu tun sei. Alle „Führer“ sind unheilvolle Phantome gewesen. Sie haben die Freiheit geraubt, erst innerlich, dann äußerlich. Aber sie waren möglich, weil so viele Menschen nicht mehr frei, nicht mehr selbstverantwortlich sein wollten. Heute haben wir die Folge dieses Verzichtes. Wir müssen wieder wagen, verantwortlich zu sein, jeder für sich. [...]

Karl Jaspers: »Geleitwort«, in: Die Wandlung, Nr. 1, 30.11.1945, S. 3-6. Der Auszug entstammt  S. 3f.

Karl Barth: Zur Genesung des deutschen Wesens, 1945:

Karl Barth:
*Basel 10.5.1886, † Basel 10.12.1968 Schweizer protestantischer Theologe . 1911 Pfarrer in einer kleinen Schweizer Gemeinde, entwickelte eine liberale und sozial engagierte Theologie, trat der sozialdemokratischen Partei bei. Wurde 1921 ohne akademische Voraussetzung- en als Honorarprofessor nach Göttingen berufen. Später ordentlicher Profes- sor in Münster und Bonn. Leistete Wider- stand gegen den Nationalsozia- lis
mus, wurde 1934 Gründungsmitglied der Bekennenden Kirche. 1935 entschied er sich jedoch zum Exil in der Schweiz und wurde dort Profes- sor in Basel.
Ökumenisches Heiligenlexikon; Wikipedia

Man muß einmal damit rechnen, daß wahrscheinlich die übergroße Mehrzahl der deutschen Menschen noch heute faktisch kaum eine Ahnung davon hat, in welchem kollektiven Wahnsinn sie nun so lange gelebt haben [...], welche Verantwortlichkeit sie einst auf sich genommen haben, indem sie einst Bismarck, dann Wilhelm II. und nun endlich und zuletzt Hitler Nachfolge geleistet und Alles, was ihnen befohlen wurde, willig und geduldig getan haben [...].
Man muß aber auch mit etwas Anderem rechnen, nämlich mit der merkwürdigen deutschen Eigenschaft, gerade über unangenehme politische Erinnerungen nachher großzügig hinwegzuleben und sie in ihr Gegenteil umzudeuten. [...]
Man muß ferner damit rechnen, daß die Deutschen es lieben, auf jede politische Anklage alsbald mit einer Gegenanklage und mit entsprechenden entrüsteten Ansprüchen zu antworten. [...]
Man muß weiter mit dem geschichtsphilosophischen Tiefsinn der Deutschen rechen: sie lieben es überaus, sich bald als die Vollstrecker, bald auch als die Opfer großer, schicksalsmäßiger geschichtlicher Notwendigkeiten zu verstehen, und es ist klar, daß es ihnen auch von da her schwer fallen wird, endlich einmal [...] sich zu einem verantwortlichen Dnken, zu gesunden Einsichten zu zu wirklich freien Entscheidungen aufzuraffen.
Und man muß endlich mit dem religiösen Tiefsinn der Deutschen rechnen, der der Anerkennung eigener konkreter Schuld allzugerne damit ausweicht, daß er auf die große Wahrheit hinweist; vor Gott seien schließlich alle Menschen und Völker gleich schuldig [...]

Karl Barth: Zur Genesung des deutschen Wesens. Ein Freundeswort von draußen, Stuttgart (Mittelbach), 1945, S.41f.  [»Die Deutschen und wir«, Vortrag in der Schweiz im Frühjahr 1945.]

Max Picard: Hitler in uns selbst, 1946:

Max Picard:
*Schopfheim (bei Offenburg) 5.6. 1888, † Neggio (bei Lugano) 3.10.1965
Arzt und Philosoph, praktizierte den Beruf jedoch nur kurze Zeit in in Frankfurt, (Heidelberg?), Berlin. Lebte dann als freier Schriftsteller ab 1914 in München und seit 1919 im Tessin. Konvertierte vom Judentum zum Katholizismus.
Leo-bw; Wikipedia

 

Professor X, ein Gegner der Todesstrafe, fragte mich, was man mit den Menschenquälern und den Menschen¬vergasern, diesen Nazis, machen solle, ob man sie wie¬der an ein Leben in der rechten Ordnung gewöhnen könne.
Ich antwortete:
»Dieser Menschenvergaser gewöhnt sich leicht, allzu leicht wieder an die rechte Ordnung. Sie treffen ihn, wenn Sie in München Briefmarken kau¬fen wollen, am Schalter der Post, oder er verkauft Ihnen Zigarren in einem Geschäft, oder er ist Hoteldirektor und begrüßt Sie freundlich, und falls Sie, wenn Sie die Rechnung bezahlen, dem Vergaser durch einen Irrtum 50 Pfennig zu viel gegeben haben, so wird er Ihnen nachsprin-gen, eine Viertelstunde lang sogar, um Ihnen die 50 Pfennig zurückzubringen, und auf dem Wege zu Ihnen wird er vielleicht noch einem weinenden Kinde ein Stück Schokolade geben, das er eigentlich seinem eigenen Kinde geben wollte.«
Das ist das Furchtbare, daß man den Mörder in seinen bürger-lichen Beruf zurückbringen kann, so als ob kein Mord und nie eine Vergasung durch ihn geschehen wäre. [...]
Die Engländer haben sich jetzt nach diesem Krieg gewundert, daß man mit den gefangenen Deutschen über alles reden kön-ne. Man kann mit einem Deutschen reden hintereinander über Existenzphilosophie, über die Zuckergewinnung aus Holz, über Menschenvergasung, über den Maler Paolo Uccello, - aber man kann nur darum so hintereinander mit ihm reden, weil er mit keiner Sache verbunden ist, keine Sache ist länger in ihm als den Augenblick, den das Gespräch dauert. Nicht einmal mit seinen Vergasungen hängt der Vergasende zusammen, nicht einmal davon ist eine Spur in ihm geblieben; er erscheint als ein braver, mittelmäßiger Mensch, der nicht einmal weiß, was eine Vergasung ist, er erscheint als einer, der überhaupt nie etwas getan hat, er erscheint wie unberührt, allem Guten zugänglich, erziehbar also, - das ist das Verführerische und das Dämonische an ihm. Aber alles, was durch die Erziehung in ihn hineingebracht würde an Gutem, bliebe auch nur augenblickshaft in ihm. Er ist so zusammenhangslos in seinem Inneren, daß nichts in ihm bleibt.
[...]

Max Picard: Hitler in uns selbst, Erlenbach-Zürich (Rentsch), 1946, S.31, 36f.

Hans Paeschke: Verantwortlichkeit des Geistes, 1947

Hans Paeschke:
* Berlin, 30.9.1911, † München 5.10.1991
Sohn eines Lehrerehepaares, studierte 1930-36 in Berlin, Genf und Paris Jura interessierte sich aber mehr für Philo- sophie und Literatur. 1939-44 war er Chefredakteur der Zeitschrift Neue Rund- schau, die, sich auf das Kulturelle beschrän- kend, die Zensur umging. Ab 1942 tat er dies von Frankreich aus, wo er in der Spionageabwehr des Admiral Canaris tätig und knüpfte dabei Kontakte zur Résistance. Nach dem Krieg orien- tierte er sich stark an Frankreich und gründete 1947 in Baden-Baden die Zeitschrift Merkur.
, Deutsche Biographie

Es wäre also davon zu sprechen, daß die Verantwortlichkeit des Geistigen zum integrierenden Bestandteil im öffentlichen Leben einer Nation gehöre, daß Geist vor der Gesellschaft verpflichte, und daß die schlimmen Folgen eines Versagens dieser Funktion des »öffentlichen Geistes«(um ein Wort Rudolf Borchardts anzuwenden) heute in Deutschland vor unser aller Augen stehen.[...]
Karl Jaspers hat diesen Sachverhalt in seinem Büchlein über die »Schuldfrage« vorbildlich erhellt: ohne Schuldbewusstsein wird jede Klage zur Anklage, jede Reaktion auf einen Angriff zum Gegenangriff. [...]
So entsteht die Gefahr, daß man unter Verleugnung einer relativen Verantwortlichkeit des Individuums vorschnell nach überpersönlichen Prinzipien greift, die als »Das Schicksal« oder »Die historische Notwendigkeit« alles Geschehene schlechthin rechtfertigen und nichts ändern. Schließlich greift man zum Selbstbetrug. Man stellt das Geschehen und zuletzt sich selbst unter eine Glasglocke. Wie viele wollen heute nicht an die Greuel der Konzentrationslager glauben, weil sie fürchten, ihr Wissen könne dadurch nachträglich schuldhaft werden?

Hans Paeschke: »Verantwortlichkeit des Geistes«, in: Merkur N°1, 1947, S. 100-110. Der Auszug entstammt S. 100, 102, 104.

Hans Werner Richter: Die Hypnose weicht, 1947

Waren wir Nationalsozialisten? [...]

Hans Werner Richter:
*Neu Sallenthin (Usedom) 12.11.1908, † München 23.3.1993
Wurde 1922 Buchhandelsgehilfe, trat 1930 der KPD bei, 1932 allerdings ausgeschlossen. Misslungene Gründung einer Widerstandsgruppe 1933 und erfolglose Emigration in Frankreich, Nach der Rückkehr 1934 Buch- händler und Lektor in Berlin. Wegen des Ver- dachts auf Untergrundarbeit 1940 ver- haftet, dann aber in den Krieg geschickt. 1943-46 Kriegsgefangenschaft in der USA. Herausgeber der Lagerzeitung Der Ruf, die dann in Mün- chen fortgesetzt und 1947 von der amerikanischen Besatz- ungsbehörde wegen “pro-kommunisti- scher Ten- denz” 1947 verboten wurde.  Richter wurde Schriftsteller und Gründungs- mitglied der Gruppe 47.
Richter-Stiftung; Wikipedia

 


Viele waren erklärte Gegner, zum Teil aus christlicher Weltanschauung heraus, zum Teil weil ihnen der Nationalsozialismus gegen den guten Geschmack ging. Doch fast alle waren wir Gegner ohne Entschiedenheit, ohne Konsequenz, privat, im stillen Kämmerlein, höchstens noch unter Gleichgesinnten. [...]
Ich frage: waren wir dagegen, weil wir die nationalsozialistische Politik der Gewalt nach außen abgelehnt haben?
Ich glaube, wir müssen auch diese Frage mit nein beantworten, nicht für alle, doch für die meisten von uns. Auch wenn wir nicht nationalsozialistisch gedacht haben, nationalistisch haben wir gedacht. Großdeutschland hat uns imponiert. „Deutschland, Deutschland, über alles“ ins Superlative gesteigert, war unser außenpolitisches Bekenntnis. Die Politik der Gewalt haben wir dafür angenommen, ja aus dieser nationalistischen Haltung heraus die Pflicht abgeleitet, für diese Ideale das Leben einzusetzen. So dachten wir, so dachte unser Volk, deren Jugend wir waren.[...]
Irgendwo sind wir dafür gewesen, nicht für den Nationalsozialismus, aber für den Nationalismus und für den Sozialismus.
Wir waren zu einem größeren Teil Nationalisten, Romantiker im engen nationalistischen Sinne, die in unseliger Blindheit an die Vollkommenheit und Auserwähltheit einer Rasse, unserer Rasse, geglaubt haben, mehr oder weniger gründlich, wenn in diesem Dämmerzustand des Geistes von Gründlichkeit im Sehen, Erkennen und Entscheiden überhaupt gesprochen werden kann.
Wir waren zu einem größeren Teil Sozialisten, nicht im Sinne einer sozialistischen Parteidoktrin, Sozialisten im Sinne eines geöffneten Herzens gegenüber der Gemeinschaft, einer Bereitwilligkeit zum Opfern, zur Ein- und Unterordnung. [...]
Das sind wir gewesen, wir bekennen es hier vor den Öffentlichkeit, nachdem wir uns fast zwei Jahre darauf besonnen haben, wir sagen es als Bekenntnis zu unserer und gegen unsere Vergangenheit. [...]

[Hans Werner Richter*]: »Die Hypnose weicht...«, in: Der Ruf - Blätter der unabhängigen Generation, n°10, 2.Jg., 15.5.1947, S.1f.
* vermutlicher Autor dieses Editorials.

2. Relativierung

Das Verführungsparadigma (siehe oben, D. Lerner) erlaubte, den Massen, die Hitler gefolgt sind, enerseits eine objektive Verantwortung für dessen Machtergreifung und die daraus folgenden Konsequenzen zu geben, sie andererseits aber subjektiv von der Verantwortung dafür freizusprechen und die Schuld in einem übergeordneten Verhängnis zu suchen. Diese Verhängnisse konnten historisch defininiert werden, z.B. das Preußentum, der preußische Militarismus, in dem ja auch die Alliierten einen wesentlichen Faktor für die Entstehung beider Weltkriege erkannten und dies auch im Zusammenhang sahen. Oder aber es mündete in eine theologisch-kulturphilosophische Generalabrechnung mit der Moderne, der Aufklärung und Säkularisierung, der Abkehr von Gott. Die kirchlichen und v.a. die katholischen Zeitschfiten, die des damals vertraten, hatten in der Nachkriegszeit einen großen Einfluss auf die Debatte. Eine entgegengesetzte Tendenz zur Relativierung begrenzte den Kreis der Schuldigen und Mitschuldigen auf die politische Führungsschicht und sprach das Volk kollektiv frei von Verantwortung, wobei die unterschieldlichen Ansätze sich auch wieder treffen und überschneiden konnten, etwa in der bereits oben erwähnten Verführungsthese. Dies ermöglichte es auch den Kollektivschuldvorwurf dialektisch in sein Gegenteil zu verkehren, in eine Kollektiventschuldigung: Wenn alle Schuld auf sich geladen hatten, war keiner wirklich schuldig als Person.

Alfred Weber: Unsere Erfahrung und unsere Aufgabe, 1945

Alfred Weber:
`Erfurt 30.7.1868, † Heidelberg 2.5.1958
Bruder des Soziologen Max Weber, studierte zunächst Archäologie und Kunstgeschichte in Bonn ab 1888 und wechselte 1889 zu Jura in Tübingen und Berlin. Dort legte er 1897 sein Examen ab, promovierte, habilitierte und wurde 1900 Professor in Berlin, 1904 in Prag. und seit 1907 in Heidelberg. Publizierte wichtige Untersuchungen zu Industrie und Arbeits- welt und setzte sich für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeiter ein. 1914 meldete er sich freiwillig zum Krieg und begeisterte sich für imperiale Kriegs- ziele. Nach Kriegsende war er maßgeblich an der Gründung der Deutschen Demo- kratischen Partei beteiligt. Weber kriti- sierte die Nationalsozialisten und gab 1933 freiwillig seine Professur auf. 1945 gründete er gemeinsam mit Karl Japsers die Zeit- schrift Die Wandlung und trat der SPD bei .
Wikipedia; Uni Heidelberg

In der ersten Ausgabe der von Karl Jaspers herausgegebenen Zeitschrift Die Wandlung (siehe ohen) bilanzierte der Soziologe Alfred Weber in einem langen Ausatz die Erfahrung der jüngsten Vergangenheit und die sich daraus ergebende Aufgabe für einen Neuanfang Deutschlands. Dabei analysierte er das Phänomen der Massen und ihrer Psychologie,  das Problem der Freiheit in der Massengesellschaft und die damit verbundene Frage der Schuld bzw. der Schuldfähigkeit hinsichtlich des Nationalsozialismus. Sein Urteil unterscheidet sich durchaus von dem  von Japspers.

Wenn und wo die Massen offensichtlich, ohne daß sie es selbst verschuldet haben, infolge der historischen Verhältnisse weitgehend inkompetent geblieben sind zur Selbstregierung, nicht etwa bloß wegen der Enge des sachlichen Horizonts, der die Grundlage ihrer Urteilsbildung darstellt, sondern, aus Defizienzen der charakterlichen Formung, - so muß eine Änderung von beiden, Änderung der Urteilsenge und der Charakterdefizienz angestrebt werden. Massenschulung, Schulung sowohl durch das Leben - man lernt das meiste am besten, wenn man genötigt ist, dauernd zu versuchen - und durch Umbau der Erziehung. [...]
Unsere Aufgabe ist die Umwandlung des deutschen Massenmenschen aus einem geduldig gehorsamen Massentier in einen Typus der Zusammenordnung charakterlich selbständiger, aufrechter, selbstbewußter, auf ihre Freiheitsrechte eifersüchtiger Menschen. [...]. 

Alfred Weber: »Unsere Erfahrung und unsere Aufgabe«, in: Die Wandlung Nr.1, 30.11.1945, DS. 50-64. Der Auszug entstammt S. 62f.

Marie-Luise Kaschnitz: Von der Schuld, 1945

Marie-Luise Kaschnitz:
geb. Freiin von Holzing-Berstett, verh. Freifrau Kaschnitz von Weinberg
Karlsruhe 31.1.1901, † Basel 10.10.1974
Tochter eines adligen Generals, wuchs in Potsdam und Berlin auf, nach dem Abitur in Weimar zur Buchhändlerin ausgebil- det  und arbeitete ab 1924 in einem Münchner Verlag und einem Antiquariat.in Rom. 1925 heiratete sie den Archäo- logen Guido Kaschnitz von Weinberg. Zahlreiche Reisen und beruflich bedingte Wohnortswechsel, ab 1941 lebten sie in Frankfurt/M., wo ihr Mann Professor für Archäologie wurde. 1933 begann ihre schriftstellerische Karriere mit einem Roman. Im Dritten Reich gehörte sie zur “inneren Emigration”, obwohl sie den Begriff ablehnte. Bekannt wurde sie durch zahlreiche Veröffentlichungen ab 1945, mit denen sie den Ton der Zeit traf..
Wikipedia; ZVAB

In der zweiten Ausgabe der Wandlung ging die Schriftstellerin Marie-Luise Kaschnitz ebenfalls auf die Schuldrage im Spannungsverhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesamtheit des Volkes ein.

»Und was tatest Du ?«
Allerorten hören wir jetzt diese Frage, die uns seltsam anmutet aus Menschenmund, weil sie in ihrem schweren und tiefen Klang doch eigentlich jener höheren Prüfung zusteht, die sich am Ende allen Lebens vollzieht und die wir das jüngste Gericht nennen. [...] Und nur allzu rasch will sich ein Trotz erheben gegen die Frager, diese von der Geschichte aufgerufenen Zwischenrichter, von denen nicht einer ohne Sünde sich weiß. [...]
Das Verhältnis des Einzelnen zur Allgemeinheit ist im Laufe dieses Jahrhunderts ein anderes geworden, und verändert hat sich auch das Wesen der Schuld. [...] Wer heute Untaten begeht, begeht sie im Namen der Gemeinschaft [...]. Gerade weil der Charakter des einzelnen so ganz in dem mächtigen Willen der Allgemeinheit eingegangen ist, kann man von einer Massenschuld, einer Massenverantwortung sprechen. [...]
Aber es scheint mir, daß in dem Schicksal unseres Volkes wie nie und nirgendwo die Entfaltung eines urkräftig bösen und guten Willens zum Ausdruck gekommen sei. Und es scheint auch, daß wir als die vornehmlichsten Träger eines geschichtlichen Willens, mit der Schuld einer ganzen Epoche beladen, die Straße des Untergangs ziehen. [...]

Marie-Luise Kaschnitz: »Von der Schuld«, in: Die Wandlung Nr.2, 24.1.1946, S. 143-147. Der Auszug entstammt S. 143, 147. Es handelt sich um den Beginn des Artikels sowie um einen Auszug vom Ende des Artikels..

Gerhard Bonwetsch: [Der stille Kampf der deutschen Geschichtslehrer], 1950

Gerhard Bonwetsch:
* Dorpat 23.4.1885,† Detmold 1956
Sohn eines Göttinger Theologieprofessors, studierte Geschichte und Theologie in Göttingen und Berlin, promovierte in Göttingen und unterrichtete an verschie- denen Gymnasien in Berlin und Hannover, seit 1925 Direktor des Mädchengymna- siums in Detmold.. Erfolgreicher Lehr- buchautor (zus. mit Franz Schnabel: Grundriß der Geschichte für die Oberstufe, ab 1950 von lett wieder aufgelegt), politisch in der DNVP engagiert. Obwohl er nicht in die NSDAP eintrat und auch nach 1933 aktiv in der evangelischen Kirche wirkte, konnte er im Dritten Reich Schulleiter bleiben. . Nach 1945 Mitglied der CDU.
Wikipedia

Bonwetsch war erster Vorsitzender des 1949 wieder gegründeten Geschichtslehrerverbandes. in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht sprach der die Geschichtslehrer mehrheitlich frei von Mitschuld, sie hätten unter dem Nationalsozialismus ihre “Unabhänigkkeit von amtlichen Vorschriften” aufrecht erhalten.

Aber ausländische und deutsche Stellen haben nach dem Zusammenbruch von 1945 von diesem stillen Kampf nichts gewußt, vielleicht auch nichts wissen können und den Geschichtsunterricht an den deutschen Schulen mit einer besonderen Verantwortung dafür belastet, daß das deutsche Volk die Lüge des Nationalsozialismus nicht erkannt hat. Die Folge davon war, daß Geschichte als Schulfach nur sehr zögernd, in einigen Ländern erst nach Jahren zugelassen wurde. Man übersah dabei doch wohl, daß geschichtliche Unbildung gerade das sicherste Mittel ist, den Menschen jeder Art von Propaganda wehrlos auszuliefern.  [...]

Gerhard Bonwetsch: »Der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands«, in: Geschichte  in Wissenschaft und Unterricht. Zeitschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands, Nr. 1, 1950, S. 3-5. Der Auszug entstammt S. 3.

Katholische Stimmen:

In der Nachkriegsdebatte, wie sie v.a. in den neu gegründeten Zeitschriften geführt wurde, hatten katholische Stimmen ein großes Gewicht. Mehrere Zeitschriften von Bedeutung wurden in diesem Sinne als katholische Organe gegründet, mit mehr oder weniger direkter Anbindung an die Kirche. Eine von ihnen war Neues Abendland, herausgegeben von Johann Wilhelm Naumann, einem Journalisten und überzeugten Katholiken.

Johann Wilhelm Naumann: [Die Trennung von Wissen und Glauben], 1946:

Johann Wilhelm Naumann:
* Köln 9.7.1897, † Würzburg 1.5.1956.
Seit 1920 Redaktionsmitglied der von der Zentrumspartei herausgegebenen Zeitung Der Rheinpfälzer in Landau, 1928 Wechsel zur Neuen Augsburger Zeitung und der Augsburger Postzeitung. Enga- gierte sich international im katholischen Pressewesen. 1933 (oder 1935?) aus der Redaktion ent- lassen, arbeitete er dann für die Päpstlichen Missionswerke in Deutschland. 1945 erteilten ihm die Amerikaner die Lizenz für die Schwä- bische Landeszeitung in Augsburg sowie für das Neue Abendland und wurde Vorsitz- ender der Zeitungsverleger in Bayern sowie in der US-Zone.
Deutsche Biographie; Munzinger Archiv

 

In einer für viele Publizisten aus dem katholischen Bereich typischen Weise spannt Naumann in seinem einleitenden Aufsatz zur Begründung des Zeitschrfit Neues Abendland einen Bogen der geschichtlichen Fehlentwicklung des Abendlandes bis ins Mittelalter zurück, wo er in der ersten Grundlegung rationalen Denkens Abaelard den Anfang aller “Irrungen” sieht, da die Ratio die Priorität vor der Offenbarung bekommen habe und der Weg “zum politischen Mißbrauch von Gott geschenkter Obrigkeit und Macht” eröffnet worden sei.

Die Auswirkung dieses Rationalismus aber ist die Trennung von Wissen und Glauben mit allen ihren Konsequenzen, die im Verlauf der europäischen Geistesgeschichte eingetreten sind: der Trennung von Welt und Gott im Deismus, der Trennung von Moral und Religion in der autonomen Ethik, der Trennung von Wirtschaft und Moral im Liberalismus, und schließlich der Trennung von Macht und Recht bei Hegel, Treitschke und Nietzsche; kurzum die Zerstörung der einstigen geistigen Universitas, die Irrlehre von der absoluten Eigengesetzlichkeit der einzelnen Kultursachgebiete, die ganze Kulturzerrissenheit der Moderne mit ihrer trostlosen Gottferne beruht auf dieser ersten Ueberheblichkeit der ratio.
Mit der Zerstörung der einstigen geistigen Universitas aber ging die der politischen -Hand in Hand; an die Stelle der Staatengemeinschaft des Heiligen Römischen Reiches trat der moderne Nationalstaat mit seiner letzten dämonischen Konsequenz, dem Nationalsozialismus. [...]

Johann Wilhelm Naumann: »’Neues Abendland’«, in: Neues Abendland. Zeitschrift für Politik, Kultur und Geschichte, Nr. 1, März 1946, S. 1-3. Der Auszug entstammt S. 2.

Reinhold Schneider: Der Mensch vor dem Gericht der Geschichte, 1946:

Reinhold Schneider:
* Baden-Baden 13.5.1903, † Freiburg (Br.) 6.4.1958.
Nach einer kaufmännischen Ausbil- dung und sieben Jahren beruflicher Tätigkeit in Dresden wurde Schneider 1928 Schrift- steller und lebte in Berlin und Potsdam. Er griff zunächst v.a. historische Themen der Iberischen Halbinsel auf und orientierte sich am “Renouveau catholique”, der von Frankreich ausging. Schneider gilt als einer der heraus- ragenden Repräsentanten der “Inneren Emigration” im Dritten Reich, schrieb allerdings verschlüssel- te Kritiken am NS-Regime, erhielt Schreibverbot und musste 1944 vor der Gestapo unter- tauchen.  In Freiburg schloss er sich 1938 einem katholischen Kreis an und kam damit über- haupt zum Katholizis- mus “wie einer, der die Sprache verlernt hat, in die Heimat.” Nach Kriegsende erlebte er mit seinen Schriften zur Situation der Zeit einen großen öffentlichen Erfolg.
Wikipedia; RS-Gesellschaft

Wendet der Mensch von Gott sich ab, um nach Gesetzen zu leben, die er selber sich gibt - macht er den Versuch, nach dem Menschen zu leben, so wird er, wie es im „Gottesstaat" heißt, dem „Teufel" ähnlich; [...] der Teufel gelangt nicht zur Herrschaft, wo er nicht gerufen wurde, nicht zum Siege, wo sein Tun und das Tun des Menschen sich nicht verbünden. [...]
Vor dem ersten Weltkriege wurde auch unter Theologen die Frage ernsthaft erörtert, ob man an den Teufel glauben solle oder nicht. Man meinte, schon ein großes Zugeständnis zu machen, wenn man diesen Glauben anheimstellte: so hell schien es damals in der Welt zu sein. Seither brach eine fürchterliche Finsternis herein. War es damals zu hell, so scheint es heute wieder zu dunkel, als daß wir den Teufel sehen könnten, und doch steht er als der große Gegenspieler, den zu stürzen der Herr gekommen ist, in der Offenbarung. Wollen wir Ernst machen mit den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, so müssen wir uns zu einem Geschichtsbild entschließen, in dem der Teufel steht. Er ist der eigentliche Erreger der Geschichte. Ohne den Abfall, den Aufruhr wäre Geschichte nicht möglich. Die Ueberwindung des Teufels ist ihr großes Thema, ihm soll die Welt abgerungen werden mit einer jeden einzelnen Seele. [...]

Reinhold Schneider: »Der Mensch vor dem Gericht der Geschichte«, in: Neues Abendland. Zeitschrift für Politik, Kultur und Geschichte, Nr. 1, März 1946, S. 12-17. Der Auszug entstammt S. 14, 15, 16.

Hans Eduard Hengstenberg: Der Übel größtes ist unbeweinte Schuld, 1946:

Hans Eduard Hengstenberg
* Homberg/Niederrhein, heute zu Duisburg, 1.9.1904 , † Würzburg, 8.8.1998
Christlicher Philosoph, studierte ab 1924 Psychologie, Pädagogik sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften  in Köln und promovierte dort 1928 in Philosophie. Lernte den Kreis um den katholischen Philosophen Romano Guardini kennen und konvertierte 1930 vom Protestantismus zum Katholizismus. War bis 1939 als freier Schriftsteller tätig, nicht ohne Anpas- sungen an den Nationalsozialismus. Wurde 1946 Dozent an der Pädagogi- schen Akademie Oberhausen und ging 1953 an die Pädagogische Akademie in Bonn, 1961 wurde er Professor an der Pädagogischen Hochschule der Uni- versität Würzburg..
Uwe Wolfradt u.a. (Hg.): Deutschsprachige Psychologinnen und Psychologen 1933-45, Wiesbaden (Springer) 2015, S. 175. (>Google)

Gewiß gibt es keine “Kollektivschuld”. Denn Schuld ist etwas Persönliches [...]. Die Menschheit oder ein Volk kann niemals Person sein [...]. Es gibt zwar keine Kollektivschuld, aber eine Schuldgemeinschaft. Das liegt im Wesen der Gemeinschaft überhaupt begründet, die in se und per se Verdienst- und Schuldgemeinschaft ist. [...] Deshalb ist in der Gemeinschaft das Tun des einen nur vollziehbar in der Verbundenheit mit dem des anderen. [...]
Es gibt eine Gesamtschuld der abendländischen Völker- und Kulturgemeinschaft. Wir sehen sie im Abfall von der Theokratie, im Ausbruch des Autonomismus (zur Zeit der Renaissance), den den Menschen als Maß aller Dinge setzte. Es gibt aber auch eine spezielle geschichtliche Gesamtschuld des deutschen Volkes. Wir sehen sie vornehmlich im deutschen Idealismus begründet (nicht zwar ohne Beteiligung des Protestantismus). Hier komme zu dem autonomistischen noch ein besonderer kollektivistischer Zug hinzu. [...] Wenn der Idealismus nach Kant [...] den ethischen Wert eines Grundsatzes nach der Geltung in und vor der Allgemeinheit bemisst, dann denkt er kollektivistisch. Hier war die Lehre: “Recht ist, was dem Volke nützt” im Keime vorgebildet, und die Ehe mit dem preußischen Staatskollektivismus war nur natürlich. [...]

In der Loslösung von Gott und der “Seinsordnung” der von ihm geschaffenen Welt, schreibt Hengsternberg weiter, verbinde sich dieser “Kollektivismus” auch mit einem “Subjektivismus” des Menschen, der nur an sich denkt. Dies sei in der Philosophie von Kant geschehen.

Wenn er [=Kant] schließlich [...] in der Ethik das Maß des sittlichen Fortschritts in da subjektive Ideal legt, an Stelle der objektiven Seinsordnung und des lebendigen Gottes, dann zeit er sich als subjektivistisch. [...]
Der Nationalsozialismus ist nicht als das letzte und späteste Aftergebilde aus Autonomismus, Kollektivismus und Subjektivismus., die im Idealismus systematisch begründet sind.

Hans Eduard Hengstenberg: »Der Übel größtes ist die unbeweinte Schuld«, in: Neues Abendland, Okt.1946, S. 4-8. Der Auszug entstammt .S.6.

E. Schmittmann: Felix culpa?, 1946

E. Schmittmann:
Helene Schmittmann, genannt “Elli”, geb. Wahlen, * Köln 1880,
† Köln, 1970,
seit 1903 mit Benedikt Schmittmann verheiratet, einem katholisch engagierten Juristen und Sozialwissenschafter, 1919 Professor an der Universität Köln, der 1933 Lehrverbot erhielt und 1939 verhaftet wurde und im KZ Sachsenhausen starb. Die beiden waren mit Konrad Adenauer befreundet. Seine Frau engagierte sich an seiner Seite und gründete nach 1945 eine Stiftung in beider Namen.

Ist es vermessen, das heilige Wort der  »felix culpa« auf unsere heutige Situation anzuwenden? Kann unser Unglück, unsere Schuld umgewandelt werden in gnadenhaftes Heil?  Es scheint Deutschlands Schicksal zu sein, die tiefsten Probleme so zu durchleben, daß Heil oder Unheil der Weltordnung darin sichtbar werden. Wie dem Judenvolke im Alten Testamente, so war in der nachchristlichen Zeit den Germanen eine große Berufung zuteil geworden, die sie im Heiligen Römischen Reich zum Teil verwirklichten. Dann kam der Abfall. Die Reichsidee entartete zur Nationalstaatsidee. Während aber andere Völker auf dem Wege des Niederganges in säkularisierte Machtstaatsgebilde Halt fanden an Gegenkräften, die immer wieder einen gewissen Ausgleich schufen, entwickelte sich in Deutschland die Dämonie der reinen Gewaltpolitik von Friedrich ‘dem Großen’ über Bismarck zu Hitler bis in die letzte Zuspitzung hinein. [...]

E. Schmittmann: »Felix culpa?« in: Neues Abendland, Okt. 1946 , S.19-21. Der Auszug entstammt S. 19.

Stand: 9.3.2015.

Weitere Literaturangaben und Links:

Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Von der politischen Hoffnung Deutschlands, Heidelberg (Lambert Schneider), 1946... München (Piper), 2012.

Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Düsseldorf (Schwann), 1946 / München (Alber), 1946. Lieferbar in Ausgaben bei Heyne (1988) und Nikol (2009).

 

“Diese Schandtaten: Eure Schuld!” Plakat der amerikanischen Militärverwaltung´mit Fotos aus dem KZ Dachau bei der Befreiung, 1945. >LeMO

Anna J. MERRIT/Richard L. MERRIT: Public Opinion in Occupied Germany – The OMGUS Surveys, 1945-1949, Urbana/Chicago/London (University of Illinois Press) 1970,

Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker: Erforschung und Erinnerung. Göttingen (Wallstein), 2003.

Torben Fischer / Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der “Vergangenheitsbewältigung” in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld (transcript), 2007.

Norbert Frei: Vergangenheitspolitik, München (Beck), 1996.

Claudia Fröhlich: „Remigration und Neuanfang – Fritz Bauer als Richter und Generalstaatsanwalt in Braunschweig 1949-1956“, in: Fritz Backhaus / Monika Boll / Raphael Gross (Hg.): Fritz Bauer – Der Staatsanwalt. NS-Verbrechen vor Gericht, Frankfurt a.M. München 2014, S. 127-145.

Peter Reichel: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, München (Beck), 2001.

Barbara Wolbring: “Nationales Stigma und persönliche Schuld. Die Debatte über Kollektivschuld in der Nachkriegszeit”, in: Historische Zeitschrift, Bd. 289 (2009), S. 325-364. Online auf >Goethe-Universität